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Knistern der Zeit – Ein Dokumentarfilm von Sibylle Dahrendorf über Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso

von Elena Philipp

Christoph Schlingensief bei einer Aufgabe, die ihm „so viel Kraft gibt wie ich, glaub‘ ich, in den letzten hundert Jahren nicht bekommen habe“: beim Bau des Operndorfes Remdoogoo in Burkina Faso. Es ist seine letzte und die ihm wichtigste Arbeit für den krebskranken Künstler.

Zentrum der Anlage wird das schneckenförmige Festspielhaus sein, doch zunächst sollen eine Schule für die Kinder vor Ort, eine Krankenstation, Wohnhäuser sowie Künstlerresidenzen entstehen. Enthusiastisch stapft der abgemagerte Schlingensief durch die burkinische Savanne, auf der Suche nach einem Bauplatz für seine soziale Plastik. Toll, dass da Fußball gespielt wird, findet er, aber der Mercedes im Bild, der ist ein Problem. Atmosphärisches zählt, aber auch die Fakten fragt er ab: Wem gehört das Gelände? Gibt es Wasser und Strom?

Der Künstler als Bauherr

Die Fernsehjournalistin Sibylle Dahrendorf hat das Bauvorhaben von 2009 bis 2011 mit der Kamera begleitet. Ihr Film „Knistern der Zeit“, der bereits beim Berliner Theatertreffen gezeigt wurde und seit Anfang Juni republikweit durch Theater tourt, startet am kommenden Donnerstag offiziell in den Kinos. Dahrendorf lernte Schlingensief 1998 kennen, hat ihn unter anderem 2009 filmisch portraitiert.

Facettenreich ist daher die Charakterstudie, die sie nebenbei zeigt: Schlingensief, euphorisch angesichts des künftigen Bauplatzes, der etwa 30 Kilometer von der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou entfernt liegt. Bescheiden beim Treffen mit zwei örtlichen Stammesführern, überzeugend bei der Projektpräsentation vor burkinischen Funktionären. Auf einer Probe zu „Via Intolleranza II“ echauffiert er sich über ein schlechtes Mischpult, als Akteur inmitten seines Ensembles wirkt er mitreißend. Stimmungsschwankungen sind auch krankheitsbedingt: Eine nie gekannte Ruhe und Ausgeglichenheit entdeckt Schlingensief in dem einen Moment an sich, dann wieder gehen ihm die Bauarbeiten nicht schnell genug voran und er drängt schlecht gelaunt auf deutsche Effizienz.

Suche nach spiritueller Reinheit

Von medialer Inszenierung durchdrungen ist das gesamte Dorfprojekt. Nicht nur Dahrendorf, sondern auch Schlingensief und sein Mitarbeiterstab filmen und fotografieren ohne Unterlass – um Offizielle und Spendenwillige von ihrem Projekt zu überzeugen, aber auch, um das Operndorf als Nachlass eines zuletzt allseits anerkannten Künstlers zu dokumentieren.

Letztlich ist das Operndorf für Schlingensief ein transzendentes Vorhaben: Als Gralssuche versteht es der Gesamtkunstwerker, der die „spirituelle Reinheit“ der Burkinabes beschwört. Als persönliche Ruhmesstätte definiert er Remdoogoo so selbstironisch wie überzeugt in Via Intolleranza II. „Und dann kam irgendwann diese Verzweiflung: Wie kann ich mir ein Denkmal setzen“, sagt der halb Lungenamputierte schwer atmend in einem von Dahrendorf gewählten Inszenierungsausschnitt. „Ich will auch nach meinem Tod natürlich Verehrung, ich will, dass auch über mich Geo History Hefte herausbringt.“

Auch scheint sich der erschöpfte Schlingensief in Afrika noch einmal eine neue Kraftquelle erschlossen zu haben: „Wenn wir hier sind, werde ich 80“, scherzt er mit dem Operndorf-Architekten Diébédo Francis Keré. Anderswo gibt er sich „vielleicht noch zwei Jahre“.
Letztlich siegte das Anderswo und die Kraft reichte nicht, um seine kulturelle Experimentier- und Begegnungsstätte in Afrika – diese Bühne für alle – zu vollenden. Ein halbes Jahr nach der Grundsteinlegung verstirbt Christoph Schlingensief im August 2010. Stillstand auf der Baustelle zeigt Dahrendorf: Regenwasser steht in teichgroßen Pfützen, Ziegen weiden auf dem Gelände. Die Natursteintreppe, über deren Fertigstellung sich Schlingensief begeisterte wie ein Kind, ist überwuchert.

„Wie ein Blitz ist das Genie aufgetaucht“

Doch er hat genug Energie in das Projekt gesteckt, um es auch nach seinem Tod am Leben zu erhalten. Der Bau geht weiter – und Schlingensief ist irgendwie mit dabei. „Für mich ist Christoph nicht tot“, sagt Stanislas Meda aus dem burkinischen Kulturministerium vor der Kamera. „Wie ein Blitz ist das Genie aufgetaucht und wieder verschwunden. Aber er hinterlässt Spuren.“ Er könnte mit im Raum sein, so Meda. Im Computer vielleicht oder im Kopierer. Schlingensiefs Frau Aino Laberenz übernimmt als neue Leiterin die Verantwortung für das Operndorf: „Ich hab‘ ein echtes Anliegen, dass Christoph in seiner Zukunft ganz lange lebt.“

Auch das Ziel, Remdoogoo zu einem Projekt der Menschen vor Ort zu machen, scheint erreicht: Die Baustelle schafft Arbeit für die Männer aus den umliegenden Dörfern, deren Frauen anfangs noch skeptisch fragten, ob der weiße Mann denn Geld oder Wasser für sie mitgebracht habe. Fünfzig Kinder besuchen die Schule, mit deren Eröffnung im Oktober 2011 Sibylle Dahrendorf ihren sehenswerten Film beendet.

Mit den letzten Bildern erfüllt sie Schlingensief noch einen Wunsch: Er wollte vor allem die Kinder mit Kameras zum Künstlertum ermächtigen, und so drückt Dahrendorf einem Jungen eine Handykamera in die Hand. Begann ihr Film mit einem wackeligen Handy-Clip, in dem Schlingensief die Zuschauer begrüßte, so endet er mit den ebenso verwackelten Aufnahmen, die ein afrikanischer Junge von seiner Familie macht. Er hat auch das letzte Wort: „Da“, zeigt der Filmende in Richtung Horizont, in die Zukunft. Dort hatte zuvor Schlingensief, mit dem Finger im Bildausschnitt seines Handys herummalend, den Umriss des künftigen Festspielhauses projektiert. Das Operndorf, es wirkt bei Dahrendorf wie ein Totenmal voller Leben.

Quelle: nachtkritik.de vom 05.06.2012