Die Dokumentation „Knistern der Zeit“ porträtiert Christoph Schlingensiefs Projekt eines Operndorfes in Burkina Faso. Es ist noch nicht fertig, doch eins hat es bereits bewirkt: Es macht Menschen sichtbar.
Eine verlassene Baustelle mitten in der Savannenlandschaft Burkina Fasos. Sträucher, Felsen, ein gemauertes Schulgebäude, dem das Dach fehlt, eine Baugrube, die mit Regenwasser gefüllt ist und sich in einen lehmig-braunen Teich verwandelt hat. Dahinter dreizehn bunte Container, aufgereiht im Halbrund, unangetastet, gefüllt mit dem Material zum Bau eines Opernhauses. Kein einziger Bauarbeiter, kein Werkzeug, kein Geräusch. Ein Kind treibt eine Kuh, aus deren eingefallenen Flanken Hüftknochen hervorstehen, über die Baustelle.
Ein Moment des Stillstands, etwa in der Mitte des Films „Knistern der Zeit“. Sibylle Dahrendorf hat das Entstehen des Operndorfes von Christoph Schlingensief in Burkina Faso dokumentiert. Der Film beginnt im Mai 2009 mit der Suche nach dem richtigen Ort und endet mit der Eröffnung der Schule im Oktober 2011. Tatsächlich stand die Baustelle von Juli 2010 bis März 2011 still. Denn am 21. August 2010 hat der Krebs Christoph Schlingensief besiegt. Der Initiator ist nicht mehr da, aber sein Projekt lebt weiter, dank der Menschen vor Ort, dank seiner Frau Aino Laberenz, dank seines Mitstreiters, dem Architekten Diébédo Francis Kéré. Im Oktober 2011 wurde die Schule des Operndorfes eröffnet, jetzt folgt die Krankenstation, dann das Opernhaus.
„Mein Traum ist, dass es anfängt zu leben“
Schlingensief wollte und seine Mitstreiter wollen mit dem Operndorf etwas bauen, das sich wie ein Organ weiterentwickelt. Etwas, das wie eine Schatztruhe in der Savanne steht, die man entdecken und erkunden kann. „Mein Traum ist, dass es anfängt zu leben“, sagt Schlingensief in einem Moment des Films, in dem noch nichts vom Operndorf zu sehen ist. Und: „Ich garantiere: Das wird kein Bayreuth.“ Er redet sich in Rage, sagt, es gehe eben nicht um Arien, nicht um das, was die „Weißnasen“ sich unter einem Opernhaus vorstellten. Möglicherweise sei der erste Klang, der dort zu hören sei, der Schrei eines Neugeborenen. Wer weiß.
Kritiker und Bewunderer haben Schlingensief, der eine beispiellose Fähigkeit besaß, Menschen wachzurütteln, durchzuschütteln mit seinen Projekten, gerne ein „Enfant terrible“ genannt. Tatsächlich scheint Schlingensief vor allem Kind gewesen zu sein. Ein sehr schlaues und brillantes Kind mit dem Wissen eines Erwachsenen, aber mit einer ungezügelten Herangehensweise – an Menschen und an Projekte. „Knistern der Zeit“ zeigt: Es war seine Begeisterungsfähigkeit, mit der er andere so begeisterte.
Das Projekt, das „Knistern der Zeit“ dokumentiert, ist ambivalent. „Von Afrika lernen“ lautet das Motto. Doch bei aller Mühe und allem Bemühen, mit dem Operndorf etwas politisches Korrektes und Anti-Kolonialistisches auf die Beine zu stellen, bleibt es dennoch ein Projekt, das sich eine „Weißnase“, überlegt hat, für das sie einen Ort sucht und das sie nach ihren Vorstellungen davon, was angemessen ist, auf den Weg bringt. Ein Dilemma, das kaum aufzulösen ist und an dem sich bereits Generationen von Ethnologen abgearbeitet haben.
Quelle: FOCUS Online vom 05.06.2012 · von FOCUS-Online-Autorin Sandra Zistl