Ein afrikanisches Bayreuth – davon hat der Künstler Christoph Schlingensief zu Lebzeiten geträumt. Der Film „Knistern der Zeit“, der am Donnerstag (07.06.2012) in den Kinos anläuft, erzählt die Geschichte eines scheinbar unmöglichen Projekts. WDR.de hat Regisseurin Sibylle Dahrendorf interviewt.
WDR.de: Frau Dahrendorf, wie ist es denn zu der Begegnung zwischen Ihnen und Herrn Schlingensief gekommen?
Sibylle Dahrendorf: Das ist eine etwas längere Geschichte. Ich habe Christoph Schlingensief 1998 kennengelernt und habe dann im Lauf der Zeit immer mal wieder Berichte und Reportagen über ihn realisiert.
WDR.de: Ist dann eine Art von Freundschaft zwischen Ihnen beiden entstanden, oder war das in erster Linie eine professionelle Beziehung?
Dahrendorf: Eine professionelle Beziehung, die aber natürlich mit der Zeit freundschaftlich gewachsen ist. Wir sind uns ja immer wieder begegnet, und natürlich ist da dann ein Vertrauen entstanden, so dass wir filmisch auch Entstehungsprozesse begleiten konnten. Ich durfte und konnte einige Stationen seines Weges begleiten. Dafür bin ich dankbar.
WDR.de: Sie haben ihn dann von Anfang an bei der Suche nach einem Ort für das Operndorf begleitet. Wie haben Sie das denn damals empfunden? Es schien ja erst einmal eine waghalsige Idee zu sein, in Afrika ein Operndorf mit einer Theaterbühne und Film- sowie Musikwerkstätten aufzubauen. Man brauchte ziemlich viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass das auch klappt.
Dahrendorf: Das ist ja das Schöne an der Arbeit mit Schlingensief gewesen. Ein großer Teil der Arbeit bestand darin, sich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, dass Gedanken Kraft spenden können. Klar, am Anfang wusste man nicht, was am Ende dabei herauskommt. Das war aber oft so in der Arbeit mit ihm. Auch bei der Gründung seiner Partei „Chance 2000“ war das so, in den 90er-Jahren. Das konnte man sich auch nicht vorstellen, aber die Partei wurde ja tatsächlich gegründet.
WDR.de: Können Sie das Besondere dieses Ortes benennen?
Dahrendorf: Das Besondere an dem Ort ist seine Reinheit. Das hört sich klischeehaft an, aber so ist es. Es ist nicht umsonst dieser Ort geworden. Er ist nicht vergleichbar mit einer Handvoll anderer Orte, die Christoph Schlingensief mit seinem Team ebenfalls im Einzugsgebiet von Ouagadougou aufgesucht hatte. Der Ort hat keine Ablenkung. Man hört den Wind, die Tiere, die Stimmen der Menschen und alles das, wovon man in der Stadt abgelenkt ist. Das waren auch die Gründe, warum er sich dafür entschieden hat.
WDR.de: In Ihrem Film „Knistern der Zeit“ sieht man dann, dass irgendwann der Ort Laongo in Burkina Faso gefunden wurde. Ein Ort, der dem ersten Anschein nach tatsächlich mitten in der Wüste liegt.
Dahrendorf: Das ist der europäische Blick, den man darauf hat. Dort, wo das Operndorf entsteht, leben aber viele Menschen – auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht. Die Menschen leben ihren normalen Alltag, in ihren Gehöften in der Umgebung, bestellen ihre Felder, ernten und so weiter. Ein harter Alltag auch wegen des Klimas. Es gibt auch einen größeren Ort, ungefähr fünf Kilometer von dem Operndorf entfernt. Und man ist nur 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Es ist also nicht am Ende der Welt.
WDR.de: Können Sie sich an den Augenblick erinnern, als klar war, dass der Ort für das Operndorf gefunden war?
Dahrendorf: Das war ein sehr besonderer Moment, ein Glücksmoment. Das sieht man ja auch im Film. Die Filmsequenz hatte bei mir den Arbeitstitel „Moonlanding“. Christoph Schlingensief hat in dem Moment gesagt: „Jetzt sind wir auf dem Mond“ – also ein quasi historischer Moment. Das bestätigten ihm dann auch Francis Kéré, der Architekt, und Stanislas Meda aus dem Kulturministerium von Burkina Faso. Die haben das auch als solchen Moment erlebt. Man hatte ja lange gesucht – so lange, bis alle wirklich überzeugt waren: Das ist jetzt der Ort. Vorher war man ja noch in Kamerun und in Mosambik. Und als dann der Ort gefunden war, sieht man, wie Christoph Schlingensief mit seinen Leuten einen Rundgang macht, der in der Dunkelheit endet, und Francis Kéré dann sagt: „Wenn wir jetzt mal einen Augenblick unseren Mund halten, können wir das erfahren, was man Spiritualität nennt.“ Genau danach hatte man gesucht.
WDR.de: Können Sie das Besondere an diesem Ort benennen?
Dahrendorf: Das Besondere an dem Ort ist diese Reinheit. Das hört sich blöd und klischeehaft an, aber so ist es. Es ist nicht umsonst dieser Ort geworden. Der ist nicht vergleichbar mit einer Handvoll anderer Orte, die Christoph Schlingensief mit seinem Team ebenfalls im Einzugsgebiet von Ouagadougou, der Hauptstadt, aufgesucht hatte. Der Ort hat keine Ablenkung. Man hört den Wind, die Tiere, die Menschen. Da hört man alles das, wovon man in der Stadt abgelenkt ist. Das waren die Gründe, warum man sich dafür entschieden hat.
WDR.de: Christoph Schlingensief sagt in dem Film: „Ich bekomme hier die Kraft, die ich in 100 Jahren nicht bekommen habe.“ Wie haben Sie denn das Zusammentreffen von Christoph Schlingensief mit den Menschen aus Burkina Faso erlebt?
Dahrendorf: Ich glaube, die Begegnung mit den Menschen dort hat ihm wirklich sehr viel Kraft zugeführt. Und allein die Entscheidung für Burkina Faso war eine extrem große Energiezufuhr. Das hat ganz viel bei ihm freigesetzt. Er hat aber umgekehrt natürlich viel gegeben.
WDR.de: Irgendwann erlebt man einen Punkt innerhalb des Films, an dem Christoph Schlingensief relativ desillusioniert wirkt. Da sagt er: „Die Phase der Verliebtheit ist vorbei.“ Hat diese Desillusionierung länger angehalten, oder war das nur eine Momentaufnahme?
Dahrendorf: Ich würde das nicht als Desillusionierung bezeichnen, sondern als Ungeduld. Da war schon nicht mehr viel Zeit, das war zwei Monate vor seinem Tod. Er hatte die Sehnsucht, die Realisierung des Projektes zu erleben. Er hat dann aber gemerkt, dass ihm die Zeit davon läuft – und ist deshalb verständlicherweise ungeduldig geworden. Die Zeit ist ihm unter den Händen zerronnen.
WDR.de: Christoph Schlingensief ist dann im Verlauf der Dreharbeiten im August 2010 im Alter von 49 Jahren an seiner Krebserkrankung gestorben. War für Sie dennoch klar, dass Sie den Film auch ohne ihn zu einem Ende bringen?
Dahrendorf: Ich habe ganz lange nicht gewusst, wie es weiter geht. Ich dachte, ich kann der Geschichte nicht mehr gerecht werden. Man ist in dem Moment auch nicht nur in seiner Profession überfordert, sondern auch in seinem privaten Empfinden. Da muss man erst mal Zeit gewinnen und sich orientieren. Ich bin dann im Herbst 2010 noch mal nach Burkina Faso geflogen – aber nicht mit dem Ziel, ich muss jetzt was filmisch Produktives mit nach Hause bringen. Ich wollte herausfinden, wie kann der Film weiter gehen. So etwas entscheidet sich nicht zu Hause am Schreibtisch. Dafür war es extrem wichtig, dorthin zu fliegen und auf die Menschen zu treffen. Die Energie der Menschen hat uns dann Mut gemacht. Und Mut gemacht hat auch die Tatsache, dass Aino Laberenz, Christoph Schlingensiefs Frau weitergemacht hat, und der Architekt, Francis Kéré, auch nicht aufgegeben hat.
WDR.de: Am Ende des Films sieht man, dass das Operndorf inzwischen ein sehr lebendiger Ort ist. Wie haben Sie selbst den Ort erlebt, als Sie zuletzt dort waren?
Dahrendorf: Das war ein besonderer, aber auch ambivalenter Moment. Da war viel Freude, da war aber natürlich viel Traurigkeit, weil man immer daran gedacht hat, dass Christoph Schlingensief nicht dabei sein kann. Man hat sich das Leben im Operndorf ja immer mit Christoph vorgestellt – und nicht ohne ihn. Ich habe dann aber auch daran zurückgedacht, wie der Ort aussah, als er ihn gefunden hatte. Zwischen der Ortsfindung und der Schuleröffnung liegen ja mehr als zwei Jahre. Vor Jahren war alles nur reine Vorstellung, jetzt lebt das – und ein Stück von Christoph lebt dort auch weiter.
Das Gespräch führte Nina Giaramita.
Quelle: WDR.DE vom 07.06.2012