Vor knapp zwei Jahren starb Christoph Schlingensief. Jetzt erscheinen seine Memoiren. Eine urkomische und berührende Lektüre mit vielen Anekdoten über berühmte Kollegen.
Von Matthias Heine
Nähern wir uns Christoph Schlingensief doch ausnahmsweise mal durch eine entlegene Hintertür – mit Hilfe von Arnold Schwarzenegger und Julian Barnes: Im neuesten Erzählband des britischen Romanciers Barnes gibt es eine wunderbare Kulturbetriebssatire über zwei mittelmäßige alternde Schriftstellerfreundinnen. Eine von den beiden überlegt, nun ihre Memoiren zu schreiben.
Sie kennt das erste Gesetz dieses Literaturgenres: Verrate, dass Du mit einer sehr bekannten Person geschlafen hast! Doch leider hat es bei ihr nur zu einem verzweifelt notgeilen Anbandelungsversuch mit John Updike gereicht. Besser dran war naturgemäß Arnold Schwarzenegger, der seine soeben erschienenen Memoiren immerhin mit der Enthüllung bewerben konnte, er habe zu seiner „Conan der Barbar“-Zeit mit Brigitte Nielsen gevögelt. Manchmal genügt es für die Reklame offenbar auch, mit einer nicht ganz so bekannten Person im Bett gewesen zu sein.
Knutschen mit Tildas Swinton
Bettgeschichten bieten die Memoiren des 2010 kurz vor seinem fünfzigstem Geburtstag gestorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief nicht sehr viele. Seine Liaison im Jahre 1986 mit der damals noch genauso unbekannten Schauspielerin Tilda Swinton hatte er bereits öffentlich gemacht, als beide 2009 in der Berlinale-Jury saßen.
So wie es jetzt im Buch steht, ist das vor allem eine rührende Knutschgeschichte über zwei junge Welt-und-Kinoverbesserer, die weinend vor Verwirrung durchs graue eisige Vorwendeberlin turteln. Dort war auf dem Filmfestival gerade Schlingensiefs „Menü total“ gelaufen ( „Nach zehn Minuten stand Wim Wenders auf und ging. Mit ihm 400 andere. Ein richtiges Solidaritätskommando“), und Tilda Swinton verliebte sich sofort in dessen Schöpfer.
Aber dafür gibt es eine sehr heiße Krankenbettgeschichte. Als Peter Zadek mitkriegte, dass Schlingensief im Hospital lag, rief er ihn an: „Hallo Christoph, hier ist der Peter. Sag mal, wie geht’s dir denn?“ „Mir geht’s scheiße.“ „Wirklich? Was hast du denn?“ „Ich hab Krebs, Lungenkrebs.“ „Ja, das ist scheiße.
Das ist echt scheiße. Du ich schick dir ein Buch, das wird dich befreien, die Elisabeth steckt dir das gleich in die Post.“ Drei Tage später bekam Schlingensief einen Pornocomic – statt Blumen: „Wahnsinnig toll gezeichnet, aber nur ficken lecken, blasen, alles auf dem Rasen.“
Freundschaft mit Zadek
Kaum einer weiß ja, dass sich Schlingensief und Peter Zadek in den letzten Jahren angefreundet hatten. Zwar nur so oberflächlich, wie in der Nomadenwelt des Theaters üblich. Aber doch immerhin. Diese Enthüllung überrascht mehr, als es jede Bettgeschichte unterhalb einer Liaison mit Angela Merkel vermocht hätte.
Denn der Altmeister des deutschen Regietheaters und der grelle Grenzüberschreiter Schlingensief schienen doch künstlerisch so weit voneinander entfernt, wie zwei Sonnen auf den entgegengesetzten Seiten einer Galaxie. Aber man vergaß in den letzten Lebensjahren Zadeks eben gern, dass auch er mal als wilder Theaterprovokateur angefangen hatte. Die Erfahrung, dass man als Revoluzzer irgendwann zum Liebling des Establishments werden kann, teilten sie beide.
Schlingensief hat in seinen letzten Lebensjahren an seinen Memoiren gearbeitet, ist aber nicht damit fertig geworden. Nachdem von seinem Krebsbuch „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ mehr als 150.000 Exemplare verkauft worden waren, konnte man allerdings absehen, dass die hinterlassenen Fragmente nicht unveröffentlicht bleiben würden. Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz hat sie geordnet und durch andere autobiographische Aufzeichnungen ergänzt – von Tagebuchnotizen bis zum langen Online-Kommentar, mit dem er auf Vorwürfe reagiert, er würde seine Krankheit kommerziell ausschlachten.
Futter für die Krebs-Voyeure
Auch „Ich weiß, ich war’s“ befriedigt jetzt wieder die Krebs-Voyeure. Ausgefallene Fußnägel wachsen nach der Chemotherapie wieder, erfährt man. Solche Stellen überraschen so wenig, wie die Erkenntnis, dass Schlingensief lebenslang ein ketzerischer Katholik blieb, der zuletzt mit Hilfe eines dekonstruktivistischen Theologen lernte, seine Religiosität auch intellektuell zu begründen.
Erstaunlicher ist schon, dass der in den jungen gesunden Jahren doch manchmal recht präpotente Schlingensief sich nachdenklich und selbstzweifelnd gibt. Über seinen in Simbabwe gedrehten Film „United Trash“ schreibt er beispielsweise, dieser sei total misslungen, weil er Afrika nur benutzt habe.
Es fehlen natürlich nicht die erhofften Anekdoten über seine schwierige Zusammenarbeit mit der deutschen Königsfamilie (so nennt Schlingensief sie selbst) Wagner. Das erste Anbahnungstreffen für die heute längst legendäre Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung 2004 fand ausgerechnet in der „Beethoven-Suite“ des Berliner Hyatt-Hotels statt. Aber endgültig brach das Eis zwischen Wolfgang Wagner und Schlingensief erst, als die beiden Wohnmobilfans sich beim Essen über das appetitanregende Thema der Fäkalienentsorgung unterhielten und Gudrun Wagner dagegen einwendete, wie eklig sie es fände, mit dem „vollgeschissenen Eimer zur Güllestation“ zu rennen: „Und dann immer dieses Krutz, Glutsch, Glutz.“ Wie so viele Künstler, die sich im Beruf nach den höchsten Sternen des Sublimen strecken, mussten offenbar auch die Wagners alltags zum Ausgleich verbal ins Klo greifen.
Eine Telefonrechnung über 600 Mark
Jenseits solcher Dönekes ist „Ich weiß, ich war’s“ aber vor allem eine Hymne an die Eltern und das deutsche Kleinbildungsbürgertum. Was musste das Oberhausener Apothekerehepaar, dessen Kunstgeschmack mit realistischen Landschaftsdarstellungen völlig zufrieden gestellt war, nicht alles aushalten! Das beginnt mit den 600 Mark, die der 16-jährige Schlingensief vertelefonierte, weil er sich in Hollywood nach einem bestimmten Scheinwerfer erkundigen wollte, wobei er obendrein die Leitung stundenlang für die Medikamentebestellungen des Vaters blockierte. Es geht weiter mit dem Anruf der Mutter, die den Sohn besorgt warnte: „Christoph, der Möllemann ist vom Himmel gefallen. Sag nichts, wenn die Polizei anruft“.
Offenbar fürchtete sie einen magischen Zusammenhang mit einer Theateraktion, die Schlingensief vor Möllemanns Düsseldorfer Exportfirma veranstaltet hatte. Und es steigert sich immer weiter mit der Scham, die die Eltern empfinden, als der Sohn und seine Filme allmählich berühmt-berüchtigt werden: „Das war immer ein Riesendilemma für mich, wenn mein Vater die Filme gesehen hat. Zum Beispiel ,Menü total’, mein zweiter Langfilm. (…) Als er rauskam, hat ja jeder gedacht: Oh Gott, oh Gott, der Schlingensief, schwieriges Elternhaus, überall alte Nazis, Inzest, Perversionen hier, Perversion da. Das war natürlich alles Quatsch.“
Geburt des Genies im Schrankwandmilieu
Im Gegenteil: Ausgerechnet in diesem liebevollen Schrankwandmilieu hatte Schlingensief seine Erweckungserlebnisse und wurde auf eine Spur gesetzt, bei der Begegnungen wie die mit dem Experimentalfilmer Werner Nekes nur noch Weichenstellungen waren, aber kein Neustart. Hier erlebte er seine „Urszene“, als er beim Super-8-Abend im Oberhausener Wohnzimmer einen Film sah, den sein Vater versehentlich doppelt belichtet hatte: „Was ist, wenn wir in Wahrheit alle doppelt, dreifach, vierfach belichtet werden? (…) Und wir alle wahnsinnig damit beschäftigt sind, diese Mehrfachbelichtungen und Überblendungen zu ignorieren bzw. zu bekämpfen, statt sie produktiv zu nutzen?“ Hier hatte er seinen ersten Theaterauftritt: 1972 als „Blume“ in einer Aufführung des „Kleinen Prinzen“ vom Staatlichen Gymnasium Oberhausen.
Und im Essener Lions Club, wo sein Vater Mitglied war, begegnete Schlingensief 1976 seinem Leitstern Joseph Beuys. Der vortragende Künstler provozierte das Publikum mit dem Satz „Ich garantiere Ihnen, dass dieses Gesellschaftssystem in sieben Jahren komplett zerstört ist.“
Was den Kapitalismus betraf, irrte Beuys bekanntlich. Vielmehr wurde bald darauf ja dessen Gegenpart komplett zerstört. Was das Milieu der huttragenden bildungsbeflissenen Provinzhonoratioren mit ihren Heimfilmabenden betrifft, sollte Beuys leider recht behalten. Davon ist nicht mehr viel übrig. Aber es ist nur zu bedauern. Denn eine Schicht, die solche weltumarmenden, produktiv größenwahnsinnigen, typisch deutschen Universalkünstler wie Christoph Schlingensief hervorgebracht hat, kann nicht so schlecht gewesen sein.
Quelle: Die WELT vom 07.10.2012