AUFGERISSEN FÜR DIE WELT (FR)

Veröffentlicht am Autor admin

Christoph Schlingensiefs Vermächtnis: seine letzten Worte zu Gott und Glaube und die spirituelle Wichtigkeit von Afrika für uns.

Nun, wo Christoph Schlingensief gut zwei Jahre tot ist, spürt man noch deutlicher, wie wichtig er war. Mit welcher Kraft er seine Projekte verfolgt hat, wie offen er war, „aufgerissen“ sagt er einmal, wie sehr er Widersprüche aushalten und darstellen konnte, wie er Verbindungen herstellen konnte, die Ausgegrenzten reinholte, am kranken Gesellschaftskörper arbeitete, das war einzigartig.

Jetzt ist sein Buch „Ich weiß, ich war’s“ erschienen, und noch einmal ist er da. Aber es sind, daran kommt man schwer vorbei, so etwas wie letzte Worte und ein Blick zurück. Das Buch, noch von Schlingensief geplant, ist von seiner Witwe Aino Laberenz aus Tonbändern, Mitschnitten von der Lesereise des letzten Jahres und aus E-Mails oder anderen Äußerungen Schlingensiefs zusammengesetzt worden.

Trotz der Mühe, die sich Laberenz gibt, das Buch nicht „bleischwer“, sondern offen, vorläufig, in sich widersprüchlich zu gestalten, wie sie im Vorwort schreibt, das Abschließende drängt in den Vordergrund. Es liest sich immer wieder wie ein Vermächtnis. „Im Kern habe ich mich in diesem Land nicht wohlgefühlt“, steht da. Oder: „In meinem tiefsten Inneren habe ich nie glauben können, dass mich jemand wirklich mögen, wirklich lieben kann.“
Wenn Schlingensief ein Plädoyer für eine offene, nicht erfolgsorientierte Filmförderung schreibt, hat das etwas von Vermächtnis. Oder wenn er über seine Liebe zu Afrika sagt: „Ich glaube, dass Afrika spirituell und kulturell extrem wichtig ist für unsere Zukunft hier in Europa.“ Auch seine Arbeiten beurteilt der Künstler nun in der Rückschau.

Eigene Zugänge sind typisch

Wie Schlingensief zu Gott und Glaube stand, war ambivalent. In diesem Buch wird er deutlicher. Er glaubte naiv und direkt, aber wer dieser Gott ist, darauf gibt er immer wieder neue Antworten. Am Ende hat er sich einen Porzellanjesus gekauft, um sich Christus tastend nähern zu können. Eigene Zugänge, das war typisch für ihn. Über Religion heißt es einmal: „Wenn der Papst dazu stehen würde und sagen würde: Die besten Projekte sind die unscharfen Projekte, der Mensch ist ein unscharfer Organismus, dann hätte man eine sensationelle Religionsmöglichkeit, glaube ich.“
Schlingensief schreibt ausführlich über die Containeraktion „Ausländer raus!“ („Ich weiß bis heute nicht, warum das damals geklappt hat.“), über seine Filme und sein Verhältnis zum Theater, an dem er vor allem die Spiritualität liebte. Es geht um Bayreuth und den „Parsifal“, die „Church of Fear“, immer wieder die Drehbühne, die Bewegung der Zeit im Raum, die Avantgarde, Hitler, und vor allem das Operndorf in Afrika, in dem er das Ziel seiner Arbeit sah: „Selbst wenn das Operndorf nicht klappen sollte, ist da kein Haufen Scheiße, der zurückbleibt, sondern etwas sehr Schönes und Edles.“
Offen redet er über das Verhältnis zu den Eltern, die Zeit als Kind in Oberhausen, als Student in München. Er schreibt über Werner Nekes, Helge Schneider und Thomas Meinecke, die wichtige Rollen gespielt haben. Freundinnen kommen in der Rückschau dagegen kaum vor (mit Ausnahme von Tilda Swinton).

Abgeklärt, harmonisch, ausgleichend

Man liebt ihn einfach für Sätze wie: „Der Behinderte hat eine ganz andere Qualität, er hat die Möglichkeit, mit metaphysischen Dingen zu arbeiten, aber er wird gezwungen, so zu sein wie Klaus Maria Brandauer.“

Eine Szene wird als Urszene bezeichnet, es geht um die Projektionsgesetze des Films, eine andere, mit seinem Vater, der ihn mit seiner Freundin erwischt hat, kommt nur beiläufig vor, wirkt aber wie eine Schlüsselszene: „Mitten auf den Altmarkt bin ich gelaufen, habe so getan, als sei er (der Vater) ein Fremder, und gebrüllt: Lassen Sie uns in Ruhe, Sie Schwein, Sie Drecksau! Das war natürlich ein Riesenskandal.“

Einerseits ist Schlingensiefs Energie in diesem Buch weiterhin am Leben. Andererseits ist es erstaunlich abgeklärt, harmonisch, ausgleichend. Schlingensief interpretiert sein Leben als eine Bewegung, die auf eine Erfüllung, das Operndorf, zulief. Es wirkt wie ein beruhigter, altersweise gewordener Christoph Schlingensief, der einem da entgegentritt.

Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war’s. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 294 Seiten, 19,99 Euro.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 06.10.2012