Posthum erschien Schlingensiefs Buch „Ich weiß, ich war’s“: Ein autobiografischer Rückblick.
Als er nach einer Premiere in München auf die Bühne kam, und das Publikum frenetisch jubelte, trampelte, und er sich artig verbeugte, dachte er: „Die applaudieren mir nicht, die verabschieden mich.“
Es gibt ein Buch von Christoph Schlingensief. Ein letztes. „Ich weiß, ich war’s“. Ein Band voller unvollendeter Gedanken, Selbstbefragungen, die er in seinen letzten Lebensmonaten auf Tonband sprach. Ohne auf den Beipackzettel zu achten.
Schlingensiefs Frau Aino Laberenz hat diese Aufzeichnungen als Erinnerung konserviert. Das Buch ist eine einzige Liebeserklärung. Und eigentlich nicht zum Aushalten. Nicht zum Derlesen. Eine unredigierte Transkription von Schlingensiefs Sprachfülle, eine Assoziationskette mit Leerstellen. So viel Gier auszuufern, so wenig Lust, etwas zu erklären. Und die Bitte an Gott um eine „Spielzeitverlängerung“.
Schlingensief, der Film- und Theaterregisseur, der Aktionskünstler, der auf der Messerschneide Realität und Fiktion ausbalancierte, der „Bürgerschreck“ den die Bourgeoisie bald als ihren Liebling fest umklammerte, starb 2010 an Krebs. Mit 49.
Wie sehr er sich über dieses „Hofnarr des Hochkulturbetriebs“-Image gekränkt fühlte, auch davon liest man im Buch. Zwischen den Zeilen. Zwischen den herrlichen Geschichten und den grandiosen Anekdoten, die Schlingensief zu erzählen hat. Er hat’s immer ehrlich gemeint mit der Kunst. War verwundert, verärgert, wenn’s andere nicht taten.
Österreich-Aktionen
Etwa als er die Partei „Chance 2000“ gründete und Deutschlands sechs Millionen Arbeitslose an den, das heißt: in den Wolfgangsee, rief, um durch die Erhöhung des Wasserstands Bundeskanzler Helmut Kohls Villa zu fluten. Gekommen sind aber nur 600 Protestschwimmer.
Oder als er bei den Wiener Festwochen 2000 einen „Ausländer raus!“-Container neben die Staatsoper stellte und die ersten beiden Tage gar nichts passierte. Wiener Passanten sind gut im achtlos vorübergehen …
„Am schlimmsten traf das natürlich meine Eltern“, heißt’s im Buch. „Die saßen da die ganzen Jahre in Oberhausen rum und bekamen eigentlich nur mit, dass ihr Sohn merkwürdige Sachen macht.“ All die Söhne der Nachbarn waren was geworden. Arzt oder Anwalt. Und er, der Apothekersohn?
Dreht Kettensägenfilme und veranstaltet Blutexzesse auf Bühnen. Wird in Bayreuth, „wo der regierende Wahnsinn größer ist als mein eigener“, mitten in der Arbeit zu Parsifal gefragt: „Ist das Ihr Ernst, Herr Schlingensief?“
Hat ein Pantscherl mit Tilda Swinton – er konnte kaum Englisch, sie kein Wort Deutsch, aber „wir haben sowieso nur geweint und geknutscht, immer abwechselnd.“ Quatscht in Venedig Wim Wenders Vater, einen Oberhausener Chirurgen wegen eines Termins beim Sohn an (er fand nie statt).
Inszeniert am Burgtheater Jelineks „Bambiland“, „Mea Culpa“ und “ Via Intolleranza II“. Gründet die Church of Fear. Und schreit beim Biofleischhauer eine ihm zu lang gustierende Kundin an, ob sie denn nicht sehe, dass er vor Schmerzen kaum noch stehen könne. „120 Gramm Rindfleisch, bitte.“
(Freuden-?)tränen
Wie ein sterbender Elefant, erzählt er, hätte er sich in die Einsamkeit zurückziehen wollen. Und dann von seiner Hochzeit mit Aino auf einer Insel in einem See. Und von den (Freuden-?)tränen, deren Fließen er so dringend verhindern wollte und es doch nicht konnte.
Schlingensiefs letztes großes Projekt, das Operndorf in Burkina Faso, stellen nun seine Frau und Freunde fertig. Ein Film darüber hatte diese Woche am Akademietheater Premiere.
1975, da war Schlingensief 15 Jahre alt, sollte er einen Aufsatz zum Thema „Was will ich werden?“ schreiben. Er schrieb: Regisseur!
Beurteilung des Lehrers: „Bei allem Verständnis für deine jugendlichen Berufsträume erscheinen mir deine Vorstellungen und Erwartungen doch teilweise etwas naiv und unrealistisch … So kann die Gesamtleistung noch als befriedigend bezeichnet werden.“
Gut, dass Schlingensief nie auf Lehrer hörte. Sein Schlusswort: „Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte. Weil, ich gar nicht wusste, wer ich mal sein könnte.“
Quelle: Der Kurier vom 13.10.2012, von Michaela Mottinger