SCHLINGENSIEFS UNFERTIGE MEMOIREN (RP)

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Er hat sich ein letztes Mal zu Wort gemeldet. Keine klassischen Memoiren verfasst, keine Lebensnacherzählung, sondern freier, ungezwungener gesammelt, was ihm zum eigenen Leben und Schaffen eingefallen ist. Christoph Schlingensief hat doch nie ohne Brüche, ohne Lücken, ohne Raum zum Hinterfragen erzählt. So ist auch das Werk, das nun posthum noch einmal seine Stimme hören lässt, keine ordentliche Aufzählung seiner Stationen, sondern ein sprunghaftes Buch der „Erinnerungen und Erwartungen“, wie Aino Laberenz im Vorwort schreibt. Die Witwe des 2010 im Alter von nur 47 Jahren gestorbenen Künstlers hat dem Werk die Form gegeben, hat sortiert und montiert, was Schlingensief in den letzten Monaten seines Lebens zu Papier gebracht, aufs Tonband gesprochen oder bei seinen Lesungen frei erzählt hat – großherzig, widersprüchlich, charmant wie es seine Art war.

Vordergründig geht es um Bekanntes wie Schlingensiefs Parteiengründung „Chance 2000“, seinen Asylbewerber-Container in Wien, seinen Versuch, mit badenden Arbeitslosen Kohls Feriendomizil am Wolfgangsee zu fluten, um Bayreuth oder das Operndorf in Burkina Faso. Trotzdem hat dieses Buch die Frische, die viele Schlingensief-Arbeiten hatten, weil er ein wahrhaft kritischer Geist war, stets um den unverbrauchten Gedanken gerungen hat. Und weil er sich bis zur letzten Sekunde nicht abgefunden hat mit den Verhältnissen, sondern sie verändern wollte – mit den Mitteln der Kunst. Darum hat er vielleicht auch auf diesem Titel bestanden: „Ich weiß, ich war’s“ – das Buch ist ein Bekennerschreiben. Schlingensief blickt auf Schlingensief, berichtet, wie seine Projekte entstanden sind, erzählt von Wegbegleitern, Gegnern, urteilt ohne Scheu, regt sich auf, heuchelt nicht.

Der Provokateur hatte auch Lust an der Anekdote, wenn er etwa erzählt, wie ihm Gudrun Wagner bei der ersten Begegnung in Bayreuth Leberpastete von der dänischen Königin weiterschenkt. Doch sind solche Geschichten nie harmlose Plauderei, sondern zielen auf Dünkel, auf Machtgefüge. Und wenn Schlingensief so schmerzlich schwärmerisch von seiner Hochzeit erzählt, von seiner Angst, das Glück nicht aushalten zu können mit dem Krebs in der Lunge, dann ist der Leser kein Voyeur, sondern soll wieder etwas verstehen: dass Krankheit den radikalen Verlust von Unbeschwertheit bedeutet.

Einmal schreibt Schlingensief, er hoffe, dass die Leute seine Arbeit nicht als Kriegserklärung oder Größenwahn verstünden, sondern als seine Suche nach Gemeinsamkeiten. Schlingensiefs Werk ist Kriegserklärung, ist Größenwahn, aber es zielt auf das Miteinander von Menschen. So sehr er um sich selbst gekreist ist, eitel war, egomanisch, so war seine Kunst doch nie selbstgenügsam. Schlingensief hat Engstirnigkeit, Borniertheit, Rassismus bekämpft, doch ist ihm dabei die Überhöhung geglückt, ist Kunst entstanden, nie Parole oder Dekor. Wer Schlingensief nun in dieser eigenwilligen Autobiografie begegnet, versteht, dass ihm dies gelingen konnte, weil er sich eingelassen hat auf das Leben. Darum war er auch der Direktheit behinderter Darsteller gewachsen, darum plante er noch kurz vor seinem Tod einen Film über einen sterbenden Regisseur. Er fand das genauso absurd wie sein „Sterbensollen“.

Es ist gut, dass Schlingensiefs Erinnerungsbuch nichts abschließt, nichts Allgemeingültiges über ihn verkündet. Mit Schlingensief darf man nicht fertig werden, so bleibt er lebendig.

Das Buch: „Ich weiß, ich war’s“, Kiepenheuer & Witsch, 290 Seiten

Quelle: RP vom 23.10.2012, von Dorothee Krings