UNSER ALLER CHRISTOPH (SPIEGEL ONLINE)

Veröffentlicht am Autor admin

Er steht auf der Bestsellerliste, über zwei Jahre nach seinem Tod. Eigentlich dürfte das gar nicht sein, denn so berühmt Christoph Schlingensief als Person ist, so unbekannt ist sein Werk. Die Verehrung für ihn ist widersprüchlich – und typisch deutsch.

Christoph Schlingensief war ein irrsinnig netter Mensch, und wenn man das Cover auf seinem Bestseller „Ich weiß, ich war’s“ anschaut, wie er da so sitzt, zerzauste Haare, gut geschnittenes Hemd, Loch in der Jeans, einen ausgestopften Hasen neben sich, ein Blick, der eher entspannt als müde ist – dann fällt es schwer zu glauben, dass Schlingensief wirklich tot ist oder auch nur weg.

Vor etwas mehr als zwei Jahren ist Christoph Schlingensief gestorben, und das Buch, das er 2009 über sein Krebsleiden schrieb, „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“, war sein erster Bestseller: Er fand darin eine Sprache für seine Angst, die auch die Angst der anderen war und ist, die Angst vor dem Krebs und dem Tod, die am Ende auch die Angst vor dem Leben ist, es war im Grunde mehr ein Stammeln, ein Fluchen, ein Rufen und manchmal ein Zetern und Flehen – der verlorene Sohn Schlingensief wurde mit diesem Buch wieder in die Familie aufgenommen, er wurde geschätzt und gemocht, all die, die den lebenden Künstler nie verstanden hatten, konnten nun den sterbenden Künstler verehren.

Immer schneller als seine Kritiker

Die Frage ist dabei allerdings, wie weit die Bekanntheit der Person und die Bekanntheit des Werkes auseinanderklaffen. Oder, anders gesagt, wie es kommen konnte, dass so viele Menschen eine Meinung über Schlingensief hatten, ohne einen seiner Filme gesehen zu haben: „Menu Total“ etwa oder „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ oder „Das deutsche Kettensägenmassaker“, Exorzismen der deutschen Schuld und Schuldverliebtheit; ohne eine seiner Theaterinszenierungen erlebt zu haben: seinen bürgerlichen Grusel-„Hamlet“ etwa mit echten Ex-Neonazis oder die Biografie-umflorte Ich-Messe „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“; ohne bei einer seiner Kunstaktionen dabei gewesen zu sein: die Partei „Chance 2000“ mit dem Motto „Wähle dich selbst“ oder die „Big Brother“-Variante „Bitte liebt Österreich“, bei der man Ausländer aus dem Land raus wählen konnte.

Schlingensief war, das sieht man an dieser kleinen Auswahl, immer schneller. Als seine Interpreten und Kritiker, denen meistens nur ein dämlich hinterhergehecheltes „Provokateur“ einfiel; er war aber auch schneller als er selbst und produzierte ein wild rankendes Wuselwerk, in dem sich doch eigentlich die anderen verheddern sollten; er war sogar manchmal schneller als seine Zeit, was ja unter anderem einen großen Künstler auszeichnet. Sein Stück „Rosebud“ etwa von 2001 war eine frühe Beschreibung der Enge und Ersticktheit der Berliner Hauptstadtpresse und der politischen Konsequenzen dieser Medien-Entropie – in seinen Filmen wiederum gerieten die deutschen Mythen von Nazi-Schuld, Täter-Weinerlichkeit und Selbstmitleid, von deutschem Wahn und deutscher Wurst auf eine Art und Weise durcheinander, dass Faszination und Ekel nicht mehr recht zu unterscheiden waren.

Der Beuys der Beck’s-Trinker vom Prenzlauer Berg

Schlingensief war dabei sehr nah an seinem Publikum, das Spaß daran hatte, die ganze Hitler-Chose nochmal durch den Fleischwolf zu drehen, das in der Wirrnis von Schlingensiefs heiterer Gegen-Aufklärung die Freiheit fand von den Fragen, mit denen die verdammten 68er noch so genervt hatten, das noch nicht mit dem Geschichts-Rollback von Bernd Eichinger und Nico Hoffmann konfrontiert war: Heute soll man ja mit den Tätern wieder weinen, so scheint es nach „Rommel“ jedenfalls. Schlingensief war damit ein deutscher Künstler in einer Zeit, in der es unklar war, was das eigentlich ist, ein deutscher Künstler. Er war der Beuys der Beck’s-Trinker vom Prenzlauer Berg – die Verehrung, die ihn irgendwann ziemlich überraschend erwischte, war dabei nie zu trennen von den Widersprüchen und Verwicklungen derer, die ihn liebten.

Dass nun ein Buch, „Ich weiß, ich war’s“, in dem ein Minderheiten-Künstler des Minderheiten-Mediums Theater über die Inszenierungen und Pläne seiner letzten Jahre erzählt, auf die Bestseller-Liste kommt, muss also einen anderen Grund haben, als dass sich auf einmal viele Menschen dafür interessierten, wie es war, als Schlingensief mit sechs Millionen Arbeitslosen im Wolfgangsee baden gehen wollte, um Helmut Kohl die Füße nass zu machen. Oder wie es war, als Gudrun Wagner betrunken war und Wolfgang Wagner mal lange nichts sagte und am Ende in Bayreuth ein Film gezeigt wurde, wie ein toter Hase langsam zerfällt, und was das mit „Parsifal“ zu tun hat, das erklärt sich im Grunde von selbst.

In dem Buch, das tröstlich und interessant ist, gibt es eine Szene, die Schlingensief seine „Urszene“ nennt: Da wird der Doppel-8-Film, den Schlingensiefs Vater von Mutter und Sohn am Strand gemacht hat, versehentlich doppelt belichtet, auf einmal laufen Menschen über Schlingensiefs Bauch und den Bauch seiner Mutter. „Aber wieso“, fragt sich der kleine Christoph. „Da waren doch keine anderen Leute am Strand! Wir haben irgendwo Milchreis mit Zimt und Zucker gegessen und sind dann zum Strand gegangen, klar, das stimmt, aber da waren definitiv keine anderen Leute…“ Und dann erklärt er in guter Schlingensief-Manier aus dieser Anekdote seine ganze Arbeit, ach, sein Leben, was für jeden anständigen Avantgardisten eh eins ist.

Neun Jahre Rumrödeln im Bett

„Man ist nicht der, der man sein wollte, man kann es gar nicht werden, weil die Unschärfe ins Spiel kommt und man permanent neu belichtet wird. Oder weil man schon vorbelichtet ist, wenn man loslegen will. Wir gehen nicht unbelichtet in die Dinge, da bin ich sicher. Ich zum Beispiel musste für meine Eltern sechs Kinder darstellen. Ich hatte zumindest immer dieses Gefühl, weil meine Mutter und mein Vater eigentlich sechs Kinder haben wollten, es aber erst nach neun Jahren geklappt hat. Das heißt also: Neun Jahre Rumrödeln im Bett, dann kam ich endlich auf die Welt, danach wieder Rumrödeln, aber da kam dann niemand mehr. Ich bin also seit 1960 auf der Welt und habe den Auftrag, sechs Kinder darzustellen. Sechs Personen in mir am Start, die bis heute tun und machen – eine sechsfache Belichtung, eine Totalschizophrenie.“

Und das ist eben nichts anderes als eine Beschreibung seiner Generation, dieser Nachkriegs-, Nach-68er-, Nach-so-vielem-Generation, der er selbst als Projektionsfläche diente, doppelt, dreifach, sechsfach belichtet: Wie im Film, so laufen ihm selbst die Menschen über den Bauch und übers Gesicht, Hitler, Beuys und Tilda Swinton und all die anderen, die er mochte, oder die er nicht mochte, oder die ihn mochten, oder die ihn nicht mochten. Seine Politisierung der Ästhetik ist dabei, so hat das Walter Benjamin einmal an einem anderen Beispiel erklärt, die Kehrseite der Ästhetisierung der Politik, die den Faschismus kennzeichnet.

Frei ist Schlingensief damit davon allerdings nicht. Wie auch. Er ist ja Deutscher.

Quelle: S.P.O.N. – Der Kritiker, 02.11.2012, eine Kolumne von Georg Diez