SCHLINGENSIEF-ARCHIV ERÖFFNET (FR)

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Die Akademie der Künste in Berlin hat am Wochenende das Archiv des Theatermachers Christoph Schlingensief geöffnet. Regisseur Wim Wenders, viele andere Filmschaffende und Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz waren gekommen.

Die Akademie der Künste und Christoph Schlingensief? Ein Institut für Kunst und ein Mensch, dessen Leben darin bestand, die Kunst von der Kunst zu befreien? Unwahrscheinlicher könnte eine Liaison kaum sein. Allerdings hatte Schlingensief gerade für „Unwahrscheinlichkeiten“ größte Sympathien. Ja, sie waren Geburtskanal seiner Lebenskunst; Beschützerinstinkte für die Relikte derselben pflegte er allemal. Also war es doch gar nicht so unwahrscheinlich, dass Schlingensief vor gut drei Jahren, als der Krebs über ihn zu siegen begann, die Akademie als Bewahrerin entdeckte für sein „Archiv“. Kisten voller Chaos waren das: Gegenstände, Fotos, Zeitungsschnipsel und viele Ton- und Filmbänder.

„Die Umgebung wird zum Werk und das Werk zur Umgebung“, war eines der Motti der Schlingensief- Kunst, weshalb jedes kleine Ding in diesem Kosmos genauso wichtig ist, wie eine Notiz im offiziellen Regiebuch. Auch nach knapp zwei Jahren Archivarbeit ist daher noch nicht alles registriert. Dennoch wurde es am vergangenen Wochenende zur Nutzung geöffnet mit einem „Abend für Schlingensief“, der das Unmögliche dieses Archivs gut abbildete. Der Archivgedanke spielte kaum eine Rolle, dafür galt das Prinzip der Lebendigkeit und Widersprüchlichkeit: Mut zum Augenblick, zur Doppelbelichtung, zum Fehler.

Angemessen unroutiniert las denn auch der Schauspieler Martin Eder auf einer Drehbühne aus Schingensiefs Quasi-Memoiren „Ich weiß, ich war’s“. Man hörte herrliche Sätze wie: Nur dort, wo „zusammenkommt, was nicht zusammen gehört“, kann Großartiges entstehen. Der Abend bot schöne schrille Schlingensief-Momente. Film-Einspieler von seiner „Kirche der Angst“ (2008) und parodistische Dreiminüter, mit denen der junge Filmemacher 1990 den WDR traktierte, versprühten sofort jene Energie und Geistesschärfe, die Schliengensiefs Aktionen über Normalmaß hinaus trieben. Der Ton schonungsloser Ehrlichkeit, den diese Szenen anstimmten, rückte auch die Schlingensief-Kommentierer, die nacheinander auf der Drehscheibe Platz nahmen, schnell in ihre Positionen. Der große Film-Inspirator Werner Nekes berichtete wenig über seinen Schüler, aber viel über dessen Bewunderung für ihn. Jürgen Flimm überschüttete seine Recklinghauser Theater-Erinnerungen mit Sentimentalität, und Wim Wenders verstand Schlingensiefs im Buch verewigte Enttäuschung über ihn in Sympathie für sich umzumünzen.

Das alles wäre nur amüsant und gut gemeint geblieben, hätte Patti Smith die Drehbühne am Ende nicht noch angehalten und ein paar Augenblicke echter Schlingensief-Kunst entstehen lassen. Zwar habe sie von all dem, was bisher geredet wurde, kein Wort verstanden (übersetzt wurde nicht), aber sie fand es wunderbar. Auch mit Christoph, der kaum Englisch konnte, habe sie ja kaum gesprochen, ihn dennoch verstanden. Und wenn man ihr dann zuhörte, wie sie über Bayreuth sprach, wie ihre anfängliche Ablehnung seines „Parsifal“ sich in Faszination wandelte und dass die Konfrontation fremder Blicke nötig sei, um Neues zu schaffen, merkte man, dass es kaum eine bessere Übersetzerin für Schlingensief gibt als sie.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 5.11.2012, Von Doris Meierhenrich