Kein Mausoleum, sondern ein Lebenszeichen: Aino Laberenz lässt Christoph Schlingensief noch einmal zu Wort kommen. „lch weiß, ich war’s“ basiert auf dem, was der im Jahr 2010 verstorbene Künstler auf Tonbändern hinterlassen hat.
Es gehört zu den Irritationen, Christoph Schlingensief beim Zuschauer auslöste, dass seine Filme, Aktionen, Inszenierungen mit all dem Enthusiasmus, mit all den Gedanken, mit denen er sie wortreich aufpumpte, nur schwer mithalten konnten. Als Verkünder, Verkäufer und Verkörperer seiner Aktionen, die ja auch immer das Scheitern implizierten, war er am Ende, so schien es zumindest, meist besser als die Aktion selbst. Wobei der Eindruck, um es in einem der Lieblingsworte Schlingensiefs zu sagen, natürlich auch wieder „totaler Quatsch“ war, denn wenn bei jemandem Kunst und Leben, Werk und Person nicht zu trennen waren, dann bei ihm: Wer Schlingensiefs Kunst „an der Backe hatte“, der hatte – selbst wenn Schlingensief einmal nicht selbst das Megafon in der Hand hielt – immer auch Schlingensief selbst „an der Backe“. Ob es ihm passte oder nicht.
Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010. Dass sein letztes und für ihn größtes Projekt, das „Operndorf“ in Burkina Faso, weiter Gestalt annimmt, dafür sorgt seitdem seine Witwe Aino Laberenz. Und sie sorgte auch dafür, dass Schlingensief nun selbst noch einmal zu Wort kommt. „Ich weiß, ich war’s“ heißt das Buch, es ist so etwas wie Christoph Schlingensiefs Abschiedsgesang. Wie schon bei seinem „Krebstagebuch“ mit dem programmatischen Titel „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!“ basiert es vor allem auf dem, was Schlingensief in sein Tonbandgerät gesprochen hat. Es sind Gedanken über sich und sein Leben, die er bei Lesungen mitschneiden ließ, „vorletzte Gedanken“, wie Aino Laberenz es im Vorwort nennt, beginnend am 31. Juli 2009, dem Tag vor ihrer Hochzeit, und ergänzt mit Beiträgen aus seinem „Schlingenblog“ und wenigen Interviews und Dokumenten aus dem Nachlass. Das Buch solle „kein Mausoleum“ sein, betont Laberenz, sondern „ein Lebenszeichen“.
Eine klassische Rückschau ist es dennoch geworden, soweit ein Gegenwartsfanatiker wie Christoph Schlingensief dazu fähig war, vor allem im hinteren Teil und spürbar am zunehmend milderen, sachlicheren Ton, der zwar immer noch der unverkennbare „Schlingensief-Sound“ ist, sich aber deutlich von der „Das darf doch alles nicht wahr sein“-Haltung des „Krebstagebuchs“ unterscheidet. Es beginnt mit einem „Zwischenstand der Dinge“, der im Spätsommer 2009 als Absturz und Selbstentfremdung empfunden wird und der zu jenen letzten Fragen führt, von denen alles in diesem Buch ausgeht: „Was war denn das für ein Leben, das du bisher geführt hast?“ Und: „Bist du der geworden, der du sein wolltest?“
Fragen, die wohl niemand eindeutig beantworten kann und schon gar nicht Christoph Schlingensief. Eine Annäherung daran, wie er wurde, was er war, glaubt Schlingensief in einer „Urszene“ seiner Jugend gefunden zu haben. Sie passierte im Jahr 1968 in Oberhausen, als der Vater mit seiner neuen Kamera aus Versehen einen Film doppelt belichtete – und damit genau die Unschärfe und Irritation ins Bild setzte, die Schlingensief stets faszinierte. Diese Irritationsfreude setzt sich übrigens bis in den Titel dieses letzten Buches fort. Denn Schlingensief war immer und ist auch hier naturgemäß viel besser darin, zu sagen, was er nicht weiß, was er nicht ist, was ihm nicht gelang. Wenn es darum geht, was er wurde und wollte im Leben wie in der Kunst, wird es eher diffus.
Ihn habe immer, versucht er zu erklären, die Sehnsucht getrieben, „das Unsichtbare sichtbar zu machen“. Bilder und Momente zu fassen, die nicht fassbar und vorhersehbar sind. Fast wirkt er darin wie ein moderner Parsifal, nicht unbedingt auf der Suche nach dem Heiligen Gral, aber nach dem Niegesehenen. Das Buch ist aber, es wäre sonst nicht von Schlingensief, auch eine Ansammlung lustiger Anekdoten, absurder Szenen und präziser Gesellschaftsminiaturen. Etwa wenn Schlingensief von seinen Audienzen beim „deutschen Königspaar“ auf dem Grünen Hügel berichtet. Von Wolfgang Wagner, dem (gemochten) „Schlitzohr“ am Rande der Verwahrlosung, und seiner Gudrun, die hier ein (gehasster) Hausdrache mit Alkoholproblem ist, der den jeweils aktuellen Grad der Gunst in der Qualität der Bewirtung während der Besprechungen ausdrückte (für Schlingensief gab es bald nur noch staubige Kekse). Oder wenn Schlingensief erzählt, wie Peter Zadek, als der von Schlingensiefs Erkrankung erfuhr, ihm ein Päckchen ans Krankenbett schickt, Inhalt: ein Porno-Comic, und sich bei dem darüber eher Verwunderten mit einem „Ist gut, ne?“ am Telefon meldet.
Das Buch ist eine Art Wiedergutmachung an der Familie, vor allem am Vater, der noch im „Krebstagebuch“ nicht gut weg kam. Hier tritt der Apotheker als ein Mann auf, der seinem „Bürgersöhnchen“ nach dem Abitur zwar immer wieder stillschweigend die Bewerbungsunterlagen für das Pharmaziestudium hinlegt (inklusive Zettel: „Hier unterschreiben“), aber letztlich tapfer toleriert, was der Sohn treibt. Der hatte sich spätestens 1982 bei dem Experimentalfilmer Werner Nekes mit dem „Virus gegen den Mainstream“ infiziert. Zu den vielen Widersprüchen, die Schlingensief auch hier problemlos aushält, gehört, dass er die Kunst gegen Mainstream und Kommerz verteidigt („Da bin ich extrem konservativ“), sich selbst jede Naivität und jeden Dilettantismus verzeiht, nicht aber den zugereisten Künstlerdarstellern, die heute Prenzlauer Berg bevölkern („Diese Leute, die da nach Berlin kommen, sind meist nicht so „clever“).
Schlingensief verstand, selbst wenn er sich dumm stellte, seine Kunst immer als Form von Exorzismus, mit dem er der Gesellschaft und noch mehr sich selbst etwas austreiben wollte: den in ihr und sich vermuteten Rassismus, die Dummheit, die Liebesunfähigkeit, die Angst. Auch dieses Buch kann man als einen Versuch sehen, sich ein letztes Mal die Träume wie die Ängste mit Worten auszutreiben. Ein letztes Mal „die Ideen in meinem Kopf explodieren zu lassen“ und dabei so etwas Altmodisches wie Ruhe und Frieden zu finden. Im Wissen, dass es nichts zu heilen und auch keinen Frieden gibt. Nur, wie Christoph Schlingensief das nennt, absurde und traurige und wahre Geschichten. Dies ist eine.
Quelle: FAZ vom 1.11.2012, von Volker Corsten