Die Demokratie braucht Symbole und Inszenierungen. Beuys hat dafür geboxt, Schlingensief hob den Wasserstand des Wolfgangsees
Im Wahlkreis Düsseldorf-Oberkassel trat 1976 bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag ein berühmter Kandidat an: Der Künstler Joseph Beuys kam als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher zwar nur auf 568 Stimmen (drei Prozent), doch seiner Botschaft konnte er auf jeden Fall eine Menge Aufmerksamkeit verschaffen. Sie lautete: Die Demokratie muss direkter werden. Dazu stand nicht in Widerspruch, dass Beuys sich bei dieser Wahl für ein Amt im Zusammenhang der repräsentativen Demokratie bewarb. Es wäre es ihm im Gegenteil auch im Bundestag darum gegangen, die Demokratie in dem Sinne umzubauen, in dem er sie schon des Längeren zu einem Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit und Reflexion gemacht hatte. Dabei galt ein ähnliches Prinzip, das er auch für seine Kunst geltend machte: Da wie dort wollte Beuys keine Experten am Werke sehen (also meisterliche Kunstschaffende und abgehobene Politikmacher), sondern er wollte das Künstlerische und das Politische auf alle Menschen verteilen.
Macht und Autorität
Das, was daraus entstehen sollte, nannte er eine „soziale Plastik“. Schon vier Jahre zuvor hatte Beuys bei der Documenta 5 die wesentlich von ihm selbst mitgetragene Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung als seinen künstlerischen Beitrag verstanden und die 100 Tage zu intensiven Diskussionen genützt. Am Ende der Veranstaltung gab es einen Boxkampf für direkte Demokratie, zu dem Beuys persönlich antrat – eine symbolstarke Aktion, in der es auch um das Lehrer-Schüler-Verhältnis ging und damit um die Weitergabe oder Ablehnung von Macht und Autorität. Mit seinem Konzept von “ Volksherrschaft“ ging Beuys so weit, dass es eher revolutionär als reformistisch wirken musste. Tatsächlich schwebte ihm auch eine Art Räterepublik vor, in der Amtsträger kurzfristig abwählbar sein sollten, und in der wichtige Bereiche wie das Schulwesen oder die Wirtschaft einer „freien Selbstverwaltung“ unterliegen sollten, während der Staat sich auf „die reine Rechtsverwaltung“ beschränken sollte.
In der damals gerade entstehenden Partei der Grünen bildeten die Prinzipien der direkten Demokratie anfänglich ein wichtiges Element: Die Parlamentarier sollten möglichst direkt mit einem basisdemokratischen Prozess in Verbindung stehen. Heute würde man das als klassische Fundi-Ansprüche verstehen, gegen die sich bei den Grünen die Realos durchgesetzt haben, die eine flexiblere Handhabung des Mandats befürworten. Doch das sind schon eher prozedurale Fragen, hinter denen wieder zu verschwinden droht, was die Kunst den Verfahrensweisen der Demokratie ursprünglich nahebringen wollte: einen positiven Begriff von Teilnahme, von Kreativität, von Gesellschaft und folgerichtig auch von Politik als gemeinschaftlichem Projekt, das nicht zuletzt unter dem Gesetz der künstlerischen Freiheit stehen sollte.
Auf Freiheitsdefizite verweisen
Dass Beuys nach der Documenta 5 seine Professur an der Düsseldorfer Kunsthochschule verlor (wogegen er einen Prozess anstrengte), war auch ein Indiz für das insgesamt antiinstitutionelle Moment in dieser Offensive für eine direktere Demokratie. Die Kunst ist in der aufgeklärten Gesellschaft das System, das am ehesten auf die Freiheitsdefizite zu verweisen vermag, die dort entstehen, wo Politik zu routinierter Verwaltung wird. Theoretiker wie Jacques Rancière, die einen anspruchsvollen, konkret kaum einzulösenden Begriff von Politik entwickeln, gehen nicht umsonst häufig von ästhetischen Fragen aus. Rancière vor allem findet in der historischen Konstellation um 1800, als Schiller das Zusammenspiel von Kunst, Gesellschaft, Politik auf das Bild eines großen Tanzes brachte, eine wichtige Inspiration. Das, was uns gemeinhin als politischer Alltag erscheint (Verteilung von Budgets, Besetzung von Posten, Erlass und Durchsetzung von Gesetzen), fällt bei Rancière unter den polemischen Begriff „Polizei“.
Parteien stehen besonders im Verdacht, dass sie Bewegungen zum Stillstand bringen und Freiheit in Strukturen verwandeln. Deswegen wandte sich Christoph Schlingensief, den viele als Nachfolger von Joseph Beuys sahen, im Jahr 1999 auch genau diesem Thema zu und gründete eine “ Partei der letzten Chance“, die auch auf einen neuen Begriff von direkter Demokratie zielte. Schlingensief begriff das demokratische Verhältnis als eines zwischen Akteuren und Zuschauern und wollte folgerichtig eine „Publikumsaktivierung“ erreichen. Mit der Aktion “ Baden im Wolfgangsee“, zu der Arbeitslose eingeladen wurden, um den See zum Überlaufen zu bringen, an dem der deutsche Kanzler Helmut Kohl traditionell seinen Sommerurlaub verbrachte, machte Schlingensief deutlich, dass in einer Mediengesellschaft die direkte Demokratie nicht mehr nur auf Volksabstimmungen zu konkreten Themen zielen kann.
Sie muss auch die symbolische Dimension ernst nehmen, muss Inszenierungen schaffen, aber solche, in denen der „Spin“ nicht dazu dient, Machtverhältnisse zu verkaufen, sondern offenzulegen und demokratischer zu machen.
Quelle: Bert Rebhandl, DER STANDARD; 19./20.1.2013