Die ungebremste Kreativität – Multitalente Teil 6: Christoph Schlingensief
Von Holger Noltze
Er wollte vor allem eins: die große Konsensblase zum Platzen bringen. Was immer Christoph Schlingensief tat, ob er Filme machte oder Aktionskunst, immer ging es ihm darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen, das Dunkle zwischen den Bildern aufscheinen zu lassen.
Großzügig geht der Kulturmedienbetrieb mit der Zuschreibung des irgendwie Genialen um, schnell wird einer damit behängt, wenn Außerordentliches superlativiert werden soll, und wo Deutschland inzwischen gleich staffelweise Superstars sucht und angeblich findet, ist auch der Weg zum Genie zwar immer noch nicht kurz, aber kürzer geworden. Christoph Schlingensiefs, des Apothekersohns aus Oberhausen, Weg zur Geniewerdung aber ging einerseits länger, andererseits viel kürzer, und das muss man erklären. Er dauerte länger, weil die Welt, die er mit seinem geliebten Megafon so ausdauernd beschallt hatte, erst bereit war, das Genie Schlingensief zu sehen, als es mit seiner irdischen Existenz zu Ende ging. Darüber ist zu reden. Erst aber davon, wie kurz der Weg in die Genieklasse für diesen Künstler wirklich war: Denn Christoph Schlingensief hatte eigentlich als Genie gleich angefangen, einundvierzig Jahre, bevor die BILD-Zeitung am 23. August 2010 lautstark „Abschied von einem irren Genie“ nahm. Wörtlich so: „Deutschlands umstrittenster Künstler hat den Kampf gegen den Lungenkrebs verloren. Er war Nichtraucher. Die Kulturwelt trauert.“
Eins: Eine Kindheit mit Kamera
Im Alter von acht Jahren soll Christoph Maria Schlingensief seine ersten Kurzfilme gedreht haben, Titel etwa Der Fahnenschwenkerfilm, Mein 1. Film und Eine kurze Kriminalgeschichte. Der Vater, Hermann Josef Schlingensief, war ein begeisterter Doppel-Acht-Filmer, dem kommenden „umstrittensten Künstler Deutschlands“ wurde die Kamera also in die Wiege gelegt. Und er griff zu. Das gibt es bei kleinen Kindern, andere spielen auf kleinen Geigen. Das Seltenere ist, dass Schlingensief die Kamera nahm und sie nie mehr aus der Hand gab. Man kann diesen Künstler nur verstehen, wenn man diese fast unheimliche Kontinuität sieht. Denn es ging immer weiter, 1975 mit einem Schocker namens Das Geheimnis des Grafen von Kaunitz, 1977 folgte Mensch Mami, wir drehn ’nen Film, mit dem bedeutsamen Schlusssatz: „Hans, Hans, Hans, du musst aber auch alles immer übertreiben.“
Aus dem fünfzehnten Lebensjahr datiert ein Schulaufsatz, in dem er den Berufswunsch „Regisseur“ mit großer Liebe zum professionellen Detail und entschiedener Ernsthaftigkeit erörterte. Und man darf annehmen, dass ihn die Beurteilung: „Bei allem Verständnis für deine jugendlichen Berufsträume erscheinen mir deine Vorstellungen und Erwartungen doch etwas naiv und unrealistisch“, dass ihn die schwer gekränkt hat, Gesamtleistung „noch befriedigend“.
Er wollte ernst genommen werden, weil es ihm ernst war.
Das bemerkenswerte Dokument enthält mindestens noch zwei weitere wichtige Aspekte zum Verständnis des späteren Phänomens Schlingensief: die Einsicht, dass Filme nicht nur ein begnadetes Regisseur-Ego, sondern auch ein Team brauchen. Und auch dies. Zitat: „Ich kann mich sehr darüber freuen, wenn ich sehe, wie sich die Zuschauer von meinem Film angesprochen fühlen. Ich muss aber selbst zugeben, dass ich Kritik nicht sehr gut ertragen kann.“ – Beides blieb, und es hatte Folgen, nämlich erstens die Einbindung der Schlingensiefschen Kreativität in familienähnliche Arbeitsstrukturen, zweitens ein genauer, ja empfindlicher Blick auf die medialen Wirkungen. In den 1980er Jahren entsteht eine Trilogie zur Filmkritik, darin das erste Langformat Tunguska – Die Kisten sind da, und 1985 führt er genau Buch über die „Kritikermissverständnisse“ über „Menu total“ und gibt den Notengebern Noten zurück, von 1 bis 5.
Es war ihm nicht egal, was geschrieben und geredet wurde. Und weil er einerseits weder Mainstream noch Avantgarde machen wollte, weil er andererseits aber auch immer kräftig zulangte, an Blut, Extremen und Exkrementen nicht sparte; weil er spätestens 1990, seit Das deutsche Kettensägenmassaker, in dem eine westdeutsche Metzgersfamilie Ossis zersägt, der Filmemacher mit der Kettensäge war, war auch die Kritik nicht zimperlich. Sie übersah dabei die Zartheit und Verzweiflung des Künstlers Schlingensief, der mit Kettensäge und Megafon, mit allem Schreien und Rennen doch vor allem eins wollte: die große Konsensblase zum Platzen zu bringen. Und sichtbar werden zu lassen, was für unsere an das Licht der herrschenden Verhältnisse viel zu gut angepassten Augen nicht zu sehen ist. „Seht Ihr den Mond dort stehen“, dichtete einst der Dichter Claudius, „er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.“
Zwei: Urszene ’68. Gespenster auf dem Bauch
Er hat es öfter erzählt, hier im November 2006 bei einem improvisierten Vortrag in Dortmund, als einen Moment blitzhaften Erkennens davon, dass die abgefilmte Wirklichkeit viel mehr ist als eine Eins-zu-eins-Abbildung. Die Episode spielt 1968, als im Wohnzimmer der Schlingensiefs ein Urlaubsfilm aus Norderney lief, den der Vater mit seiner Doppel-Acht-Kamera aufgenommen und wohl doppelt belichtet hatte:
„Er war so euphorisch mit seiner Kamera, dass er dieses Material genommen hat, und hat es unter der Bettdecke zweimal umgelegt. Jetzt kommt nach 14 Tagen der Film zurück, wir gucken auf die Leinwand, es wird das Wohnzimmer abgedunkelt. Wir gucken also alle zu dieser Leinwand. Es knattert, es raucht, es stinkt auch ein bisschen und wie das alles heißt. Und wir gucken hin, und plötzlich sehe ich meine Mutter und mich da am Strand liegen, aber über unseren Bauch laufen andere Leute. Also da sind irgendwelche Personen, die über uns laufen, und ich sage: Ganz klar, in Norderney damals, da waren damals keine anderen Leute am Strand, ich weiß es ganz genau, da waren keine anderen Leute. Wir hatten eben noch Milchreis gegessen mit Zimt und Zucker und dann sind wir zu dem Strand gegangen, aber da waren keine anderen Leute. Und plötzlich laufen aber andere Leute über unseren Bauch und da war irgendwie was passiert. Und das war 68, als die anderen eben dann diese Revolution ausgelöst haben, die uns immer noch beschäftigt und die nie zu Ende geführt werden kann. Diese Revolution, die fand hier im Filmmaterial statt.“
Von eben noch Milchreisessen mit Zimt und Zucker geht es, haste nicht gesehen, zur Revolution von ’68, und dazwischen laufen fremde Menschen über die bekannten Bäuche am Strand von Norderney. Andere haben ihre Erhellungsmomente, dass es noch mehr gibt als Bauchbräunung, anderswo, für Christoph Schlingensief ereignete er sich in den Medien Film, Familie und Fehler.
„Eigentlich habe ich bis jetzt wirklich doch nur berichten wollen, mein Vater hat einen Fehler gemacht und dieser Fehler, der war sehr produktiv, der war plötzlich in einer Ebene interessant, weil ich eben zwei Bilder zur gleichen Zeit sah, was eigentlich nicht geht. Und das war dann eben in den 70er-Jahren so, dass dann Super-Acht aufkam, dann gab es diese Kameras. Ich habe mit den Kameras herumgedreht, wir haben eben Filme gedreht im Jugendfilmteam Oberhausen. Da habe ich eben einen Roman, diesen Totenhaus der Lady Florence, in die Finger bekommen, habe ihn gelesen und dieser Roman, der hat Tausende von Rückblenden. Und jetzt waren aber zwei Rückblenden im Spiel, wieder ein Fehler: Einmal darstellen, wie man zeigt jemanden, der schon früher etwas erlebt hat, im Film jetzt, wenn man das ‚live‘ sieht gerade. Und das Zweite ist: Was macht man, wenn man nur alle zwei Wochen Geld für Filmmaterial hat. Dann passiert nämlich, dass der Kommissar die Treppe runter kommt – der war damals auch zwölf Jahre alt, 13 Jahre alt -, und der hatte die Haare lang. Dann ging er zum Verhör in den Raum und hatte die Haare kurz, weil er zwei Wochen später eben beim Friseur war. Jetzt ging er wieder raus und hatte die Haare wieder lang. Dann hatte ein anderer ein gelbes T-Shirt an, als er rausging, hatte er ein rotes T-Shirt an. In der nächsten Szene hatte er ein grünes T-Shirt an, und dann hatte er das an. Man lernt also Anschlussfehler. Und dieses Beschwören von dem immer Kontinuierlichen, das ist eigentlich dann vielleicht schon die Urstelle gewesen, wo ich wusste: Ich lande mal in Bayreuth.“
Drei: Landung in Bayreuth (Afrika)
Zweimal hatte er sich bei der Filmhochschule in München beworben, zweimal wurde er nicht genommen. Für uns, die Nachwelt, ist das gar kein Problem, denn wir haben ja die Gewissheit, dass er es irgendwie doch geschafft hat. Die Ablehnung durch die akademische herrschende Lehre gehört zu den Bausteinen einer Genie-Legende: Das Neue, das Andere wird logischerweise erst mal abgelehnt. Kein Problem für uns; wohl aber für den, der ja noch nicht wissen kann, dass ihn die Welt eines fernen Tages zum Genie erklären wird. Im Fall Schlingensief ist das Besondere, dass er am längsten genau da abgelehnt wurde, wo seine Ambition am Entschiedensten war: als Filmer. Irgendwie rutschten seine Trash-Exzesse zwischen die Gewissheiten sowohl der Avantgardeszene wie erst recht des Kino- und vor allem Fernsehmainstreams. Zu Schlingensiefs Lieblingsfeindbildern gehörten öffentlich-rechtliche Fernsehfilmredakteure, angefangen von jener ganz frühen und wohl traumatischen Erfahrung, dass so ein Fernsehspielhalbgott des WDR dem Nachwuchsfilmemacher auf den Weg gab, er liebe seine Figuren nicht. Kaum zu fassen, aber so war das mal.
Zum Verständnis der obsessiven Produktivität des Künstlers Schlingensief gehört das insofern, als die Radikalität, mit der er an den Gitterstäben des Systems rüttelte, zum Beispiel des öffentlich rechtlichen Systems und seines Kultur- und Aufklärungsauftrags, dieses Ich-will-da-rein! das „Drinnen“ des Systems als das Andere einerseits und im konkreten Fall zum Kotzen fand, es andererseits aber denn doch akzeptierte, eben weil er immer weiter rüttelte. Dazu gehörten auch die Institutionen der sogenannten „Hochkultur“. Als Matthias Lilienthal, damals Dramaturg an Frank Castorfs Berliner Volksbühne, den Filmregisseur 1993 ans Theater holte, war das nachhaltig von Bedeutung: für das Theater, das mit Schlingensief nicht nur einigen urbanen Happening-Schick gewann, sondern mit dem von diesem Außenseiter nur noch teilkontrollierten Chaos auch ein Stück Unberechenbarkeit. Es konnte, endlich, wieder alles passieren. Es war aber auch wichtig für den Künstler Schlingensief, von einem „richtigen“ Theater überhaupt eingeladen worden zu sein. Es war bestimmt nicht kokett, wenn er immer wieder erzählte, was es ihm bedeutete, wenn seine Eltern oder Tante Trude in der Zeitung lesen konnten, dass der Christoph nun auch Theater machte, also „Kunst“.
Das Genie, auch wenn es nicht „universal“ ist, spricht sich gern genreübergreifend aus, gegen die Trägheit des Publikums, die jedem immer nur ein Feld gönnt. Entweder Maler oder Musiker oder Dilettant. Der Dilettant aber kann manchmal mehr sehen, und er stellt die einfachen Fragen. Bei Schlingensief stand hinter den erstaunlichen Medienwechseln, deren erstaunlichster die gleich zu behandelnde Verpflichtung zu den Bayreuther Festspielen war, oft einfach wohl die drängende Frage, wo es weitergehen sollte. Und noch als er, auf dem Umweg über die Talkshowbühnen des Fernsehens, eine für den medialen Stoffwechsel unverzichtbare Prominenzfigur wurde, schlug dieser Prominente aus seiner Bekanntheit keinen Profit. Wo fast alle Stars und Sternchen ihre Haut zu Markte tragen, war er auch hier eine Ausnahme.
Auf den Gleiswechsel zum Theater folgte mit Rocky Dutschke, 68 dann der zum Hörspiel. Entstanden ist es 1997 für den WDR, es war etwas ganz anderes als die Audiospur eines Theaterstücks, in dem er als „Rocky“ Dutschke seiner selbst aufgetreten war und die große Erzählung, mit der ein Mensch Jahrgang 1960 immer von den sogenannten 68ern gequält wird (haben wir alles schon gemacht, aber das hatte damals noch Kraft), mit liebevoller Ironie ins Schweben brachte. Entdeckt war spätestens hier ein Genie des Timing und der präzisen Sensibilität für Tonfälle, und wer es noch nicht gemerkt hatte, konnte in der kalkuliert improvisierten Dramaturgie dieses Hörspiels, seinen überwältigenden Spannungsbögen und grandiosen Abstürzen, bemerken, wie viel nicht nur an Instinkt, sondern auch an künstlerisch organisatorischer Umsicht da am Werk war. Gerade für seine Radioarbeiten, die er dann in Folge für den WDR produzierte, ohne Manuskript und an den Strukturen des Senders vorbei, erfuhr Schlingensief endlich die Anerkennung des Kulturbetriebs. Er bekam 2003 den Hörspielpreis der Kriegsblinden, seine Dankrede im Plenarsaal des Bundesrats adressierte er an die „sehr geehrten Blinden, liebe metaphysische Blinde, an alle Dunkelheiten, die uns umgeben“, und es war im Grunde wieder nicht zu fassen.
Und dann eben der Anruf aus Bayreuth, die Einladung, für 2004 Parsifal zu inszenieren, sozusagen am Originalschauplatz. Für eine Sekunde herrschte ungläubiges Staunen im Kulturmedienbetrieb über diesen Besetzungscoup, aber man fasste sich naturgemäß schnell: War denn diese Landung in Bayreuth, auch wenn sie dann nicht im UFO, sondern im Wohnmobil erfolgte, nicht nur wundersam, sondern geradezu unheimlich logisch? Schlingensief, der mit allen Mitteln der Kunst und des Lebens aufs Ganze ging, ein schreiender, rennender Gesamtkunstberserker, war er nicht ein Bruder im Geiste Richard Wagners? Und andererseits so herrlich „schräg“, dass man sich auf die Premiere am 25. Juli 2004 vorfreute wie auf die letzte große Schlacht des Regiekasperletheaters, einen Kulturkampfevent mit Bühnenweihfestspiel, wie ihn der langweilige und gelangweilte Betrieb schon lange nicht mehr erleben durfte. Mit Wolfgang Wagner, dem Prinzipal, konnte sich Schlingensief besser über Wohnmobile als über Wagner unterhalten, es rappelte mächtig im Karton und wäre ohne die Besonnenheit des Dirigenten Pierre Boulez wohl überhaupt nicht zur Aufführung gekommen.
Kam es aber doch. Und es kam ganz anders, als die ewig Informierten es erwarteten, die ja schon wussten, dass das terrible Schlingensief mit seinen blutigen Faxen und seiner Ironie das Bühnenweihfestpiel bestimmt hopps nehmen würde. Es kam aber der ernsteste, traurigste, maßloseste Parsifal, den die Welt je gesehen hatte, ein drehbühnengetriebener Bilderstrom, eine Installation als Live-Kino, und vielleicht nie war man dem Gesamtkunstwerk in Bayreuth näher gewesen als hier, und ohne Faxen. Schlingensief war zuvor nach Afrika geflohen und hatte seine Gralsburg da gefunden. Ein Kontinent, in dem die Zeit sowieso schon Raum geworden ist und in dem die Fehler, die in unserer wohlsortierten ersten Welt die Künstler mühsam wieder in ihre Kunstwerke einbauen müssen, schier überreichlich zu Tage liegen. „Diese Menschen wissen zu improvisieren“, sagt in Strauss/Hofmannsthals Oper Ariadne auf Naxos der Haushofmeister, also Regisseur, über eine Truppe fahrender Commedia-Artisten, über die die richtigen Ariadne-Opernleute nur die Nase rümpfen. Der Regisseur Christoph Schlingensief hatte erfahren, dass hierzulande kaum noch ein Artist weiß, wie improvisieren geht, weil immer alles nach Regieplan laufen muss, das Theater wie das Leben. Es gab viele Gründe, warum er nach Afrika ging, aber dies war wohl auch einer: Die Menschen dort wissen zu improvisieren, schon deshalb, weil es gar nicht anders geht.
Vier: Der Hase
Es gibt ein schönes Foto, erschienen in der Süddeutschen Zeitung ein paar Wochen vor der Parsifal-Premiere. Schlingensief beim Interview mit dem Doyen der deutschen Musikkritik Joachim Kaiser. In Kaisers Büro. Der Chefkritiker sitzt an seinem Schreibtisch, die Arme verschränkt, man sieht ihn halbschräg von hinten, wie er ein wenig hochmütig, aber doch interessiert auf diesen jungen Wilden schaut und zuhört. Schlingensief war gerade aus Afrika gekommen, er sitzt auf dem Besucherstuhl, neben sich eine Plastiktüte, er erzählt und fuchtelt wohl mit den Armen, und im Moment, als das Foto gemacht wurde, hat er den rechten Arm gerade ausgestreckt, fast ein bisschen bedrohlich für den älteren Herrn Kaiser, und es wirkt wie eine Szene aus Wagners Siegfried, als Wotan den jungen Siegfried aufhalten will auf dem Weg zum Brünnhildenstein und Siegfried dem alten Frager einfach den Speer durchhaut und weiterzieht. Wotan muss abziehen. Aber immerhin, Kaiser hatte interessiert gefragt.
In der Oper muss Siegfried noch durchs Feuer gehen, das war dann in Bayreuth auch so, da trafen zwei Systeme aufeinander, die echte Probleme hatten, sich zu verstehen. Der vorige Parsifal war viele Jahre gelaufen, inszeniert von Wolfgang Wagner, und darin standen die Gralsritter so dauernd herum, dass gelegentlich mal einer umfiel, das war dann die Bewegung. Bei Schlingensief dagegen war alles in dauernder Bewegung, und wer umfiel, waren die Gralshüter des geordneten Festspielbetriebs. Besondere Aufregung machte das Schlussbild. Über das pseudoheilige Geschehen, wie Parsifal als reiner Erlöser dem siechen Gralskönig Amfortas die Wunde schließt und der Knabenchor aus der Höhe sein lichtes „Erlöhösung dem Erlöser!“ singt, hatte Schlingensief einen Kurzfilm von Alexander Kluge auf die Bühnentotale projiziert, die Zeitrafferdokumentation eines Hasenkadavers, zum „höchsten Heiles Wunder“ also den allerrealistischsten Vorgang der Verwesung alles Fleischlichen gezeigt. Nicht der afrikanische Gral, die nackte dicke Frau, der Gralsritter Gurnemanz als Steinzeitmann waren der Aufreger, es war der Hase. Die Gralshüter argwöhnten Entweihung, es lag, als der Vorhang sich schloss, Kulturkampfstimmung in der Luft, aber auch Verstörung: Der schlimme Schlingensief hatte, was immer er gemacht hatte und wenn man es auch nicht recht verstehen konnte, doch jedenfalls keinen Quatsch gemacht, also schrie man etwas ratlos Buh.
Was übersehen wurde, war, wie der Prozess der Verwesung eines toten Hasen weiterging, wie nämlich aus dem Tod irgendwann, auch wenn es dauert, neues Leben entsteht, kleine Maden und Würmchen, die im faulen Fleisch wühlen, ziemlich eklig, aber die hat der liebe Gott ja auch gemacht, sie sind die Nahrung für andere und irgendwo in der Leben-und-Tod-Kette wieder für so einen netten Hasen. Schlingensief hatte der furchtbaren Todesmystik, die Wagner mit Erhabenheitsmusik so doch genaugenommen pervers übergoldet, eine andere Wendung gegeben, die auf das Leben zielt, das einfach macht, was es will, und das auf den ersten Blick oft eklig aussieht. Man muss aber an den polierten Oberflächen vorbeigucken, mit denen wir uns umgeben, aus Angst vor dem Ekligen. Wo unsere Ängste sitzen, spüren wir das Leben. In Christoph Schlingensiefs kinematografischer Philosophie ist nun das Leben ein Film, das heißt eine Folge von Einzelbildern, wie wir sie gern hätten. Die Kontinuität aber, die der Film behauptet, ist eine Illusion, die nur geht, weil zwischen den Bildern, 16 pro Sekunde oder 24, ein Streifen Schwarz ist. Das Dunkle zwischen den Bildern.
Was immer er tat, ob er Filme machte oder Aktionskunst, deren famoseste im Jahr 2000 der „Ausländer raus“-Container vor der Wiener Staatsoper war, wo Asylbewerber aus dem Land Österreich herausgewählt werden konnten, oder 1998 die Gründung der Selbstwählpartei „Chance 2000“, der Aufruf an die Millionen Arbeitslosen im Land, den Wolfgangsee, an dem der ewige Kanzler Kohl Ferien machte, durch ein gemeinsames Bad zum Überlaufen und die Regierung so zum Ertrinken zu bringen: Immer ging es darum, die Unsichtbaren sichtbar zu machen und so auch das Unsichtbare, an dem wir so strikt und stählern und eisern realitätsgewiss vorbeigucken. Schlingensiefs Dreh war also eine Art Ablenkung dieser eingeübten Ablenkung, zurück zur Sache, und dass er, wenn er redete, schon notorisch vom Hölzchen zum Stöckchen kam, etwa vom Parsifal zum Häufchenmachen, etwa über eine Hommage an den amerikanischen Aktionskünstler Allan Kaprow, das war eben seine Methode zur Wahrheit:
„Und diese Information zwischen den Bildern, das ist das, was mich interessiert und was ich eigentlich erst seit dem Parsifal eigentlich für mich entschieden habe und auch lernen musste. Aber ich sage Ihnen, was ich am Liebsten erzähle, und das ist Allan Kaprow, 18 Happenings in 6 parts. Das ist eine Aktion gewesen von ihm, die müssen Sie sich so vorstellen: Sie sitzen in einem Kasten und sehen, wie jemand eine Apfelsine schält und isst, 120 Minuten. Sie sehen, in der Mitte, wie jemand eine Banane schält und isst, 120 Minuten. Sie sehen gar nichts, es ist keiner vorne, weder Banane noch Apfelsine, es ist leer, 120 Minuten. Sie gehen raus und sagen: ‚Kannte ich schon, so’n Quatsch, was soll der Scheiß. Unglaublicher Blödsinn, hat mich gelangweilt, also dafür noch Geld bezahlen, da müssen wir mal den Finanzchef anrufen‘, und so weiter, ’so darf’s ja wohl nicht sein.‘ Dann sagen sie: ‚Also, Apfelsine, was soll der Scheiß, Apfelsine habe ich auch zu Hause, kann ich doch vor dem Spiegel viel selber machen.‘ Plötzlich hört diese Gruppe ‚Apfelsine‘. ‚Was ist denn da los, Apfelsine?‘ – ‚Moment, Banane.‘ – ‚Was, wieso Banane?‘ Dann hier: ‚Ja, wir hatten Banane.‘- ‚Was? Ja wir hatten doch Apfelsine.‘ – ‚Das darf doch nicht wahr sein, wieso hatten Sie denn Banane, ja ich seh doch Apfelsine viel lieber.‘ – ‚Ja, ich seh ja Banane viel lieber.‘ Große Diskussion und dritte Gruppe im Aufruhr, plötzlich irgendwie total kurz vor Revolution: ‚Verdammte Scheiße, ich hatte nicht mal ein Stückchen Schale, ich hatte gar nichts. Ich saß 120 Minuten im leeren Raum. Was für eine Scheiße, was für eine Kacke.‘ – Das ist 18 Happenings in 6 parts, das ist 18 Bilder pro Sekunde, das ist also, eigentlich sage ich, ich nehme mir ein Bild raus und behaupte einfach mal, das sei die Welt, ich vergesse aber, dass ich ganz viele Bilder in mir habe, die ich nicht erfüllen konnte, die niemals erfüllt werden, die ich aufgeben musste, an denen ich immer noch hänge, wo ich weinen könnte, weil ich sie aufgeben musste, oder weinen könnte, weil ich mich eigentlich mal ganz anders begriffen habe, als ich auf die Welt kam, und mein Urerlebnis hatte, – ich hab einen Haufen gemacht und, das kennt jeder von uns, der lag da rum, der sah scheiße aus, und die Mama kam rein und sagte: ‚Ja was hast du denn da gemacht. Ja was ist denn das. Ja das darf ja wohl nicht wahr sein.‘ Und Sie haben da gesessen und haben nur gedacht: ‚Ja was ist denn mit Mutti los‘, weil – ich hab ja einfach nur Scheiße gebaut. Ich habe hier Scheiße, einen Scheißhaufen gemacht. Und die Mutter sagt einfach dann: ‚Das ist großartig, ich liebe dich.‘ Und ab da wussten Sie alle, dass das eigentlich, was wir auf der Erde machen, extreme Scheiße ist. Sie müssen sie nur gut verkaufen. Und wenn ich das sage, sage ich das, weil ich weiß, dass Sie morgen wieder, auch in den Zeitungen oder was weiß ich wo, oder auch im Gespräch darüber reden, dass ich eigentlich nur Scheiße geredet habe. Aber ich sage Ihnen eins, sie haben eine Dunkelphase in sich, in der leben die Bilder und auch die Überzeugungen, die Sie schon aufgegeben haben oder die Sie in der Verschmelzung eigentlich noch realisieren könnten. Der Moment von Transformation, der tatsächlich wichtig ist.“
Fünf: Das öffentliche Sterben
Am Ende dann öffneten sich viele Türen des Betriebs: Am Burgtheater inszenierte er Jelinek, in Brasilien den Fliegenden Holländer, und der Aktionskünstler Schlingensief, der bei der documenta 1997 wegen eines „Tötet Helmut Kohl“-Plakats kurzzeitig verhaftet worden war, durfte mit dem „Ersten Internationalen Pfahlsitzwettbewerb“ der selbstgegründeten „Church of Fear“ die Biennale in Venedig bespielen.
All sein Rennen und Schreien, das Entblößen des Privaten waren Mittel zur Herstellung von Aufmerksamkeit für die Sache. Zur Tragik des Künstlers Schlingensief gehört, dass das Schreien, Rennen und Entblößen von Medien, die nichts anderes kennen, für die Sache genommen wurde, seine Kunst aber übersehen. So wurde er zum Provokateur und Faxenmacher verkürzt. Den Faxen schaute man gern zu, um den selbstentfachten Schlingensief-Rummel dann irgendwie oberflächlich zu finden. Über den Künstler Schlingensief wurde wahrscheinlich mehr Unsinn geschrieben und geredet als über irgendeinen anderen; aber die Fotos des charmanten Strubbelkopfs wurden immer gern gedruckt. Und dann 2008 die Krebsdiagnose, die er genau so öffentlich machte wie anderes Private auch.
Für Christoph Schlingensief war dieses Private, außer dass es privat war, zugleich Material seiner Kunst, das Dunkle eben, das zwischen den gut ausgeleuchteten Bildern west, die wir gerne zeigen und die wir irgendwann mit dem Leben verwechseln. Für die Medien waren sie, nachdem Schlingensief eine verwertbare Marke geworden war, Futter für den Boulevard, und der verlief dann bis zum feinen Feuilleton der ZEIT, wo sich Florian Illies, als Christoph Schlingensief am 21. August 2010 gestorben war, fragte, Zitat: „ob man aus den SMS von jemandem zitieren darf, der gerade gestorben ist“. Zitat Ende. Und dann schiebt er freimütig alle Bedenken beiseite und erteilt sich die Lizenz zum Abschreiben: „Doch wenn man es bei irgendjemandem darf, dann bei Christoph Schlingensief, dieser Personifikation der aufgehobenen Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit …“
Schlingensief spielte mit den Medien, die aber auch mit ihm. Er benutzte sie als besonders raffiniertes Megafon, sie neutralisierten ihn erst zum ewigen Enfant terrible, dann zum netten Schwiegersohn. Es ist nur der andere Flügel dieses Diptychons der Verkehrtheit, wie dann sein beklommen verfolgtes öffentliches Sterben den Blick für die Kunst erneut abgleiten ließ: Seinen letzten Oratorien über den eigenen Tod wurde von Kritikern reihenweise die differenzierte Einlassung verweigert mit dem Hinweis, darüber ließe sich nicht mehr schreiben.
Sechs: Nachleben des Genies als Soziale Skulptur
Was bleibt, wenn einer weg ist, der seine Kunst so sehr persönlich beglaubigt hat. Es bleibt eine Leerstelle. Es bleibt in diesem Fall aber auch das Operndorf Remdoogoo in Burkina Faso, das letzte Projekt. Eine „Soziale Skulptur“, der ins Existenzielle geöffnete Opernbegriff. In einem der ärmsten Länder Afrikas entsteht diese „Village Opera“, eine Schule gibt es schon, nicht nur fürs Lesen und Schreiben, sondern auch fürs Filmen und Tanzen. Von außen und aus der Nähe sieht Schlingensiefs „Operndorf“ aus wie ein Sozialprojekt in einem sehr armen Land. Es wächst auf einem Hügel, etwa dreißig Kilometer östlich der Hauptstadt, der aber kein grüner, sondern ein eher gelber ist. Für Schlingensief war es ein „sozialer Klangkörper“, in dem Kinder zur Schule gehen, fünf Hektar Ackerfläche bebaut, Sport getrieben, Kranke versorgt werden. Es wird aber auch getanzt und gesungen, es werden Filme gedreht, die in einem kleinen Kino zu sehen sind, Hörspiele im eigenen Tonstudio produziert.
Die Wortschöpfung „Operndorf“ verwirrt die Menschen in Ougadougou wohl weniger als die Kulturmenschen hier, die sich fragen, was denn ein „Festspielhaus“ in einem Hüttendorf zu suchen und ob Schlingensief da ein afrikanisches Neubayreuth aus der Steppe hatte stampfen wollen. Tatsächlich ist dieses Operndorf eben auch eine Luftspiegelung des hiesigen Kulturbetriebs, ein anderer Ort, von dem aus das Eigene in Frage gestellt wird.
So entsteht im fernen Ougadougou das Nachbild einer einzigartigen Künstlerexistenz, die sich immer gut eignete für Projektionen aller Art, von allen Seiten. Stur sahen die Verfertiger der Bilder an dem vorbei, worauf Schlingensief, schreiend und rennend und am Ende immer verzweifelter zeigte. Das Dunkle dazwischen. Ein Genie, da hat die BILD-Zeitung wohl recht, aber wenn einer nicht irre war, dann er.