Fast drei Jahre nach dem Tod Christoph Schlingensiefs wird in Bern an dessen filmisches Werk erinnert – ein widerborstiges, durchgeknalltes und kindisches Œuvre, das süchtig macht.
So erträumte sich Christoph Schlingensief seinen idealen Film: Zerschnipselt in tausend Stücke, wirft ihn der Regisseur über dem Publikum ab, die Leute heben die Fetzen auf, kleben sie neu zusammen – et voilà: Der kollektive Zufallsfilm ist geboren.
Man sollte sich bei dieser Vision, die der deutsche Film- und Theatermann einmal in einem Interview formulierte, wohl kaum ein gepflegtes surrealistisches Schnipseln vorstellen, schon eher ein Zerhacken, ein Hantieren mit einer Kettensäge vielleicht, einem Werkzeug, das bei Schlingensief gerne Verwendung findet. Der Hang zur Drastik verbindet alle seine Filme, oder wie er einmal sagte: «75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.»
Im August 2010 ist Schlingensief 49-jährig gestorben. Das Kino Kunstmuseum und das Kino in der Reitschule widmen ihm nun eine umfassende Retrospektive. Eine stimmige Kooperation, denn tatsächlich gehört Schlingensief sowohl ins Haus der Kunst wie ins Haus, wo das Widerspenstige wohnt. Schlingensiefs Castingshow-Albtraum «Freakstars 3000» mit Behinderten, die Fassbinder-Verwurstung «Die 120 Tage von Bottrop», die komplett verschrobene Geschichte eines schwulen UN-Generals in «United Trash», Dokumentationen von Theaterstücken und Aktionen sowie Sibylle Dahrendorfs Film über das Operndorf-Projekt: Die eindrückliche Filmreihe kommt dem kompletten Schlingensief ziemlich nahe.
«Barbarisches» Kino
Obwohl der Regisseur gemeinhin vor allem ins Theaterfach einsortiert wird, gehörte seine früheste und älteste künstlerische Zuneigung dem Kino. Als Achtjähriger drehte er 1968 «Mein 1. Film», mit zwölf gründete er das Jugendfilmteam Oberhausen, als Halbwüchsiger bastelte er Experimentalfilme aus dem Geiste des Genrekinos. Bereits in diesen frühen Werken stellt sich Schlingensief mit Wucht gegen den Neuen Deutschen Film à la Wim Wenders, den er wehleidig findet.
«Barbarisch» nannte der Filmpublizist Georg Seesslen Schlingensiefs Kino, weil es Zerstörungskräfte entfesselt – aber nicht, um etwas Neues darauf aufzubauen oder irgendeine Form der Lösung oder Erlösung anzubieten. Schlingensiefs Filme sind ein fröhliches Gemetzel an Sehgewohnheiten, gesellschaftlichen und künstlerischen Konventionen und manchmal schlicht ein kindischer Tanz auf den Trümmern der Filmgeschichte.
In «Tunguska – Die Kisten sind da» etwa gibt es ein nur sehr rudimentäres Skelett von Handlung. Ein junges Paar gerät in die Hände von drei durchgeknallten Forschern, die Wahrnehmungsexperimente durchführen. Der Ton – immer wieder hört man völlig unmotiviert Möwengeschrei – ist ebenso aus der Spur geraten wie die Geschichte, und hie und da verglüht das Bild auf der Leinwand, als ob es in die Fänge eines schadhaften Projektors geraten wäre.
Die totale Entgrenzung
So ähnlich wie dieses Langfilm-Debüt sind viele Schlingensief-Filme gebaut: Konzepte von Handlung oder Dramaturgie sind von Anfang an zerfetzt, gefeiert wird ein schaurig-bunter Karneval der Bilder, die totale Entgrenzung auf der Leinwand. Das permanente Kreischen, Schreien, Deklamieren und hysterische Herumgerenne der Figuren täuscht aber nicht darüber hinweg, dass hier nicht der Rausch um des Rausches willen inszeniert wird. Schlingensief setzt sich und sein Team dem Kontrollverlust aus, um sich auf diese Weise an der Generation der Väter, an der Heimat, an Deutschland, an Familie und Religion abzuarbeiten.
In der übertriebenen Situation, sagte er einmal im Zusammenhang mit seinem bekanntesten Film «Das deutsche Kettensägenmassaker» (1990), stecke mehr Wahrheit als in einer zwanghaft realistischen Darstellung. Im «Kettensägenmassaker», gedreht kurz nach der Wende, fahren Westler nach Ostdeutschland, um aus den Ossis Wurst zu machen. «Das ist ja nicht unwahr», meinte Schlingensief im Rückblick. Kurz nach der Wende war er einer der wenigen deutschen Filmregisseure, die direkt auf das historische Ereignis reagierten.
Berührungsängste mit der deutschen Geschichte kannte Schlingensief sowieso nicht, wie auch «100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker» (1989) zeigt. Gedreht wurde der Film in einer einzigen Nacht und mit einem Budget von ein paar Tausend Mark. Im flackernden Licht einer Handleuchte tritt die Entourage des Führers als Bande semidebiler Halbschuhe auf, Hitler (Udo Kier) ist ein zugedröhnter Schlaffi, Göring ein überambitionierter Geiferer, und Eva Braun kommt aus dem hysterischen Stöhnen nicht mehr heraus. Damit, so Schlingensief, habe er genau das machen wollen, was in Deutschland nie passiert sei, nämlich den Deutschen Hitler zum Gebrauch vorwerfen, um ihn nicht noch mehr zum unnahbaren Mythos werden zu lassen.
Im Galopp in die Scheisse
Schlingensiefs Filme sind eine Attacke aufs Sehen und Fühlen und entwickeln doch einen schwer erklärbaren Sog. Vielleicht, weil der Regisseur häufig mit derselben Handvoll Darstellern arbeitet, so, wie das auch Rainer Werner Fassbinder einst tat. Zunächst waren es Freunde und Bekannte, später scharte Schlingensief auch professionelle Akteure wie Tilda Swinton oder Udo Kier um sich. Kier gebührt auch der vielleicht kurzweiligste Schlingensief-Film, die WDR-Produktion «Udo Kier: Tod eines Weltstars» (1994), der rotzige und todunernste Abklatsch eines Künstlerporträts, schwungvoll parodistisch und irrsinnig albern: Darin sucht ein Filmteam den angeblich todkranken Weltstar Udo Kier in seinem Haus in der Toskana auf, aber der hat nicht im Sinn zu sterben.
Warum Schlingensief, dieser Irrwisch der deutschen Theater- und Filmszene, trotz seiner Bekanntheit keinen Erfolg beim Kinopublikum hatte, erklärt Georg Seesslen damit, dass seine Filme eben mit der «schönen Amnesie», wie man sie sonst im Kino suche, so wenig zu tun hätten. «Man will all das, was da aus den Grüften und unterirdischen Gängen hochkocht, nicht wirklich wissen. Denn Schlingensief zieht uns mit seinen Bildern nicht aus der Scheisse. Er reitet uns rein. Und zwar im Galopp.» Der Stoff für solche Ritte, so ist zu vermuten, würde ihm auch heute nicht ausgehen.
Die Reihe beginnt heute mit dem Theatermitschnitt «Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir», mit Einführung von Iris Laufenberg (Kino Kunstmuseum, 18.30 Uhr).
Programm: www.kinokunstmuseum.ch, www.reitschule.ch.
Von Regula Fuchs. Der Bund vom 30.05.2013