Der Aktionist anlässlich seines 75. Geburtstages über seine Exil-Zeit in Berlin, verstorbene Weggefährten, Nationalismus und Schlingensief.
Wien im Jahr 1968: Der sozialistische Studentenbund SÖS lädt zur Veranstaltung „Kunst und Revolution“ in den Hörsaal 1 der Uni Wien. Man will abrechnen mit der Bigotterie in Österreich und dem autoritären Mief der Nachkriegsjahre. Pamphlete werden gelesen, Brandreden gehalten. Der junge Aktionist Günter Brus springt auf den Tisch, ritzt sich mit einer Rasierklinge die Brust, stuhlt, uriniert und bricht auf die österreichische Nationalflagge. Dabei singt er die Bundeshymne. Zwei Tage später tobt die Öffentlichkeit: „Ins Gefängnis mit den obszönen Rowdies!“ Der von der „Kronen Zeitung“ geprägte Begriff „Uni-Ferkelei“ geht in die österreichische Geschichte ein. Brus wird wegen Herabwürdigung der Staatssymbole zu sechs Monaten verschärften Arrests verurteilt. Er entzieht sich, flüchtet für 10 Jahre nach Westberlin, entwickelt sich zum Bilddichter und Literaten. Heute ist Günter Brus 75, Staatspreisträger und hat sich „ausgezeichnet“, wie er selbst sagt. Seit 2008 hat er sein eigenes Museum: Das „Bruseum“ in der steirischen Landeshauptstadt Graz.
„Wiener Zeitung“: Herr Brus, Ihr Leben zeigt Extreme auf. Einst verurteilter Exilant, heute gefeierter Staats- und Landespreisträger mit eigenem Museum. Eine Ironie der Geschichte?
Günter Brus: Nein. Das entspricht der Gewöhnlichkeit möchte ich fast sagen. Weil das immer so war in der österreichischen Kunst. Denken sie etwa an Kokoschka, der ja auch wie viele andere ins Ausland flüchten musste als sogenannter „entarteter Künstler“. Er hat dann in einem Brief einmal vermerkt, dass er dieses Land nie wieder betreten wird. Gekommen ist es ja dann ganz anders: Innerhalb kürzester Zeit hat er den Bundespräsidenten gemalt, dann die Wiener Staatsoper und dann gründete er in Salzburg die Sommerakademie für Bildende Kunst.
Wie sehr müssen Künstler aufpassen, dass sie dabei nicht ihr Gesicht verlieren?
Ganz einfach: Nur das Nötigste, was einem angeboten wird, annehmen und alles Überflüssige ablehnen. Wenn man in Gefahr kommt bekannt zu werden, dann sollte man die Society-Sendungen meiden und bei der Pressearbeit kontrolliert vorgehen. Nicht immer „ja“ sagen, gewisse Sachen ablehnen, das reicht schon. Ich halte allerdings auch nichts von Preis-Verächtern, die Preise zwar annehmen, dann aber eine Brandrede gegen den Staat halten, siehe Thomas Bernhard. Für mich ist das keine Lösung. Die bessere Lösung ist – und das habe ich mehrmals gemacht – den Geldbetrag, den man bekommt, etwa einem noch nicht so gut situierten Künstler weiterzureichen. Um den großen österreichischen Staatspreis habe ich damals allerdings ein Auto gekauft. Das war leider notwendig, weil wir in einem Dorf wohnten und die Einkäufe mit dem Taxi zu bewerkstelligen, das war schon sehr mühsam auf die Dauer.
Das Bruseum in Graz besteht jetzt seit fünf Jahren. Wie zufrieden sind Sie mit Auslastung und Standort?
Ich bin mit der Betreuung des Bruseums durch Kurator Roman Grabner außerordentlich zufrieden und der Standort in der Stadtmitte hat sich bestens bewährt. Die Besucherzahlen sind sehr zufriedenstellend.
Welche Ausstellungen sind in naher Zukunft geplant?
Derzeit läuft eine Werkzusammenschau mit Franz Graf. In naher Zukunft sind keine Ausstellungen geplant. Man wird sehen.
Ihr Weg führte von der informellen Malerei, über die Aktionsmalerei und Selbstbemalung, bis hin zu Körperanalysen und Schnitten mit der Rasierklinge ins eigene Fleisch. Aus kunsttheoretischer Sicht war das logisch und konsequent weitergedacht. Die breite Öffentlichkeit hat das aber nie verstanden, immer nur die Provokation gesehen.
Zunächst wurden die Aktionen konsequent abgelehnt. Und zwar nicht nur von der breiten Öffentlichkeit, sondern auch von der damaligen sogenannten Avantgarde. Die haben sich nur darüber lustig gemacht. Arnulf Rainer etwa, die Gruppe um die Galerie St. Stephan, Hollegha, Prachensky und so weiter. Nicht, dass die extrem dagegen aufgetreten sind, aber irgendwo hat man gemerkt, dass sie damit überfordert waren.
Selbstverletzung ist zumeist eine Art Hilfeschrei, ähnlich einer Suiziddrohung. Sahen Sie sich damals auch als Projektionsfläche für psychisch leidende Menschen?
Bis zu einem gewissen Grad ja, aber es gibt immer zwei Ebenen: Zum einen die psychologische, zum anderen die kunsttheoretische. Wenn ich mich auf letztere beziehe, dann liegt die Selbstverletzung auch stark in der Wiener Tradition. Eben bei den drei Hauptkünstlern um die Jahrhundertwende: Schönberg, wo man sagte, er male wie mit dem Skalpell, Schiele mit den Verrenkungen des Körpers einschließlich der sexuellen Komponente und der viel zu wenig bekannte Richard Gerstl mit seiner Fingermalerei.
Was wiegt schwerer: Seelische oder körperliche Schmerzen?
Seelische.
Warum?
Insofern, weil ich die körperlichen Schmerzen während meiner Aktionen kaum gespürt habe. Der Körper entwickelt gewissermaßen Abwehrkräfte. Wenn man sich bewusst auf die Stelle konzentriert, wo man den Schnitt setzen will, dann spürt man das kaum. Eine Technik, die sie bei Shaolin-Mönchen oder Schamanen sehen können.
Ist das also erlernbar?
Erlernbar schon. Aber zum Glück auch abgewöhnbar. (lacht) Die Aktion Zerreißprobe etwa würde ich heute um kein Geld der Welt noch einmal machen.
Mit der „Zerreißprobe“ von 1970, bei der Sie sich etwa Fäden durch die Haut zogen und Schnitte im Kopfbereich setzten, endete Ihre aktionistische Phase. Danach konnten Sie nicht mehr weiter?
Es gab von meiner Seite aus durchaus Überlegungen, noch weiter zu gehen. Ich hatte damals einige Skizzen angefertigt und meiner Frau gezeigt. Bei einer war die Idee mir einen Silbernagel durch den Rist schlagen zu lassen. Sie hat dann gesagt: „Wenn du so etwas machst, dann sind wir getrennte Leute.“ Ich wollte auch nicht, dass meine Tochter mit einem Vater aufwächst, der als Selbstverstümmeler bekannt ist. Also habe ich dann mit den Aktionen aufgehört. Konsequent zu Ende gedacht hätte dieser Weg wohl früher oder später im Suizid geendet.
Die Aktion „Kunst und Revolution“ – aufgrund derer Sie verurteilt wurden und ins Exil nach Westberlin flüchteten – wird heute als einziger österreichischer Beitrag zur 68er-Revolte gesehen. Wie kam es zu der Aktion und waren sie sich damals der Tragweite bewusst?
Man muss vorausschicken, dass das die einzige gezielt politische Aktion war, wo die Kunst quasi in eine Nebenkammer versperrt wurde. Es ging uns hier tatsächlich nur um anarchistische Provokation. Die damaligen linken Studenten des SÖS sind an uns – speziell an die Wiener Gruppe um Peter Weibel und Oswald Wiener – herangetreten, weil sie die Studentenschaft aufwühlen wollten. Dabei war meine Teilnahme an der Aktion zunächst gar nicht geplant. Ich war erst im letzten Moment für sie annehmbar. Ich glaube die hatten schon geahnt, was sie dann erwarten würde. In einer ad-hoc-Abstimmung wurde dann beschlossen den Brus auch mit einzubeziehen. Ich wusste zwar, dass das Folgen haben wird, aber so schlimm hatte ich es nicht erwartet. Nach zwei Tagen ging es dann aber richtig los: Aufgestachelt durch die hetzerische Boulevardpresse wurde ich zum Staatsfeind Nummer eins. Man hatte das Gefühl, die hätten am liebsten das Militär organisiert, um gegen uns anzutreten. So aufgeheizt war die Stimmung.
Im Unterschied zu anderen 68ern berief sich der Wiener Aktionismus stets mehr auf Freud als auf Marx. Wie politisch war denn der Wiener Aktionismus?
Wir sahen uns natürlich sehr stark in der Tradition der Wiener psychoanalytischen Schule. Politisch beeinflusst haben uns vor allem die russischen Anarchisten wie Pjotr Kropotkin. Auch die Schriften Marquis de Sades spielten eine Rolle. Auf keinen Fall gingen wir mit den damaligen linken Studenten konform, die hysterische Behauptungen aufstellten. Ich hielt nichts von den Jubelchören auf Mao und Ho-Chi-Minh. Für mich waren das alles Schwerverbrecher, ich war da distanziert.
„Herabwürdigung des Staates und seiner Symbole“ – Den Strafbestand gibt es auch heute noch. Finden Sie es legitim, die Symbole eines Staates zu „entwürdigen“?
Im Grunde genommen muss das legitim sein. Niemand sollte die Staatssymbole so sehr verinnerlicht haben, dass man sie sofort mit dem Staat oder Volk an sich assoziiert. Ich sah darin eine Form des übertriebenen Patriotismus.
Auch ein Erbe der NS-Zeit?
Ja, auch das spielte eine Rolle.
Der beauftragte Gerichtspsychiater Heinrich Groß attestierte Ihnen damals Psychopathie. Groß selbst wurde für seine Euthanasie-Verbrechen in der NS-Zeit bis zu seinem Tod 2005 nie strafrechtlich belangt. Wie verbittert sind Sie darüber?
Ich habe von Groß‘ Untaten während der NS-Zeit erst später erfahren. Es wundert mich nicht, dass ausgerechnet er damals auf mich angesetzt wurde. Es gab dann noch einen zweiten Gerichtspsychiater der – wie ich später erfuhr – in Wiener Bars als Gläserzertrümmerer bekannt war. Also ganz „lupenrein“ war auch der nicht.
Sie saßen wegen einer Provokation in Untersuchungshaft, während NS-Verbrecher frei herumliefen und über sie urteilten.
So war das damals, ja.
Wie wichtig war die Uni-Aktion letztlich für ihren weiteren Erfolg?
Das Wichtigste war, dass ich dadurch vertrieben und zur Flucht nach Berlin geradezu gezwungen wurde.
Sie mussten damals quasi über Nacht das Land verlassen.
Ja. Ich durfte die Stadtgrenzen von Wien nicht verlassen, ohne mich vorher bei der Polizei zu melden. Also mussten meine Frau und ich uns um vier Uhr früh aus der Wohnung davonschleichen. Die Nachbarn hatten in Eigeninitiative um die 2000 Unterschriften gesammelt, um uns unsere kleine Tochter von der staatlichen Fürsorge wegnehmen zu lassen. Das gab uns dann den letzten Schub nach Deutschland zu gehen. Ich hatte in Berlin ein, zwei Kontakte, wo wir im Wohnzimmer schlafen konnten. Geld hatten wir ja keines.
Gab es auch Überlegungen, die Strafe in Österreich abzusitzen?
Nein. Das hätte ich niemals gemacht. So auffällig schlimm im Sinne von provokant diese Aktion auch war, ich fühlte mich auf keinen Fall schuldig. Man hatte mir ja die damalige Höchststrafe von sechs Monaten „verschärften Arrests“ aufgebrummt. Noch kurz bevor diese Strafform abgeschafft wurde. Der Staatsanwalt meinte noch, dass sich der Gesetzgeber geirrt habe, er hätte in meinem Fall acht Jahre vorgeschlagen.
Kurz nach Ihrer Flucht schrieben sie in eines Ihrer Notizheftchen: „Berlin – Nichts geht mehr. Ausgeleert. Gestaltungskrise.“ Wie schwierig war diese erste Zeit für Sie?
Das bezog sich wohl auf meine Arbeit. Ich wurde ja damals nicht unbedingt mit Jubelchören in Berlin empfangen. Auch nicht von der Künstlerschaft. Bis auf einige Fluxus-Kreise kannte man mich ja kaum. Und die Fluxus-Leute waren wiederum in Berlin nicht wirklich hoch angesehen.
Ein Teil ihrer literarischen Memoiren hat den Titel „Das gute alte Westberlin“. Was war gut daran?
Ich kann sagen, vom ersten Tag an hatte ich, trotz aller Widrigkeiten, ein wohltuendes Gefühl. Vor allem meine Frau hatte in Berlin sofort Anschluss gefunden. Sie ist ja gelernte Schneiderin und konnte dort mit anderen Frauen Mode herstellen. Das war auch finanziell sehr positiv für uns. In Wien wäre das damals undenkbar gewesen. Aber in Berlin gab es so etwas wie einen Gewerbeschein nicht. Es war alles sehr frei und unkompliziert. Jeder konnte irgendetwas machen, das hat dort niemanden gekümmert. In den entsprechenden Kneipen, auch im „Exil“ von Oswald Wiener, hat man immer wieder interessante Leute getroffen, die uns dann von Tag zu Tag weitergebracht haben. In Berlin gab‘s damals freie Luft im Vergleich zum stickigen Wien. Das war für uns eine Wendung um 180 Grad. Ich muss dieser Stadt ein Kompliment machen.
In Kneipen, Cafés und Gaststätten fühlten sie sich immer sehr wohl, auch viele Arbeiten entstanden dort. Brauchen sie diese Kaffeehaus-Atmosphäre?
Ich bin ja schon damit aufgewachsen, kenne das aus meiner Kindheit in der ländlichen Steiermark. Mein Vater hatte damals ein Gasthaus. Lärm und Gespräche im Lokal höre ich dann meistens gar nicht mehr. Bin dann ganz konzentriert und für mich ist das wie Hintergrundmusik. Ich brauch‘ auch nicht zum Kühlschrank gehen, sondern werd‘ bedient. (lacht und nippt an seinem Bier)
Sie gründeten damals die Exilzeitung „Die Schastrommel“. Wie entstand der Titel und was wollten Sie mit der Zeitung bezwecken?
Der Titel stammt von Gerhard Rühm. Auf Wienerisch wirkt „Die Schastrommel“ provozierend. Ist ja auch ein Schimpfwort für „ältere Dame“. Für Deutsche war das hingegen einfach ein Kunstwort. Manche haben irrtümlich „Die Sachtrommel“ dazu gesagt. (lacht) Das war natürlich ein absolutes Untergrundblatt: Anarchistisch und kunstvoll, aber nicht tagespolitisch.
Sie hatten damals in Berlin eine unfreiwillige Begegnung mit Gudrun Ennsslin. Wie kam es dazu?
Durch Zufall. Ich war in einer Villa in Zehlendorf, saß dort alleine im Garten und habe gerade etwas geschrieben. Was ich nicht wusste war, dass der mittlerweile verstorbene Hausbesitzer offenbar damals ein Unterstützer der RAF gewesen war. Auf einmal kam eine große, blonde Dame durchs Gartentor herein. Sie hat sich dann als Gudrun Ensslin vorgestellt und zu mir gesetzt. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie gerade vom Kaufhaus-Brand in Frankfurt kam und auf der Flucht war. Ich habe dann meine Bedenken geäußert, dass bei dem Anschlag auch Menschen ums Leben hätten kommen können. Daraufhin hat sie nur euphorisch gemeint: „Das muss jetzt sein. Jetzt geht‘s in ganz Europa los.“ Sie war zu dem Zeitpunkt schon ganz verblendet. Ich habe das nie verstanden.
Auch zur Kommune 1 hatten Sie Kontakt?
Ja das war damals mein erster Kontakt in Berlin. Schon am zweiten Tag habe ich sie in Kreuzberg besucht. Da waren der Rainer Langhans anwesend und die Uschi Obermaier, die sich da nackt durch den ganzen Raum präsentiert hat. (lacht) Langhans hat mir dann ganze Ordner mit Presseartikel gezeigt und war mächtig stolz darauf. Ich hatte eine selbst zusammengeheftete Publikation mit, die ich ihm gezeigt habe. Aber er hat nur abgewunken und „Ja,ja..“ gesagt. Wir waren ganz offensichtlich auf zwei verschiedenen Wegen unterwegs.
Auch zwischen Otto Muehl und Ihnen haben sich später die Wege getrennt. Während Ihrer aktionistischen Phase arbeiteten Sie noch zusammen. Wegen Kindesmissbrauchs wurde der Kommunen-Gründer später verurteilt. Die Entschuldigung bei den Opfern kam spät. Der neue Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ eines ehemaligen Kommunen-Kindes zeigt Muehl als autoritär und verletzend. Wie war Ihr Verhältnis zu Otto Muehl?
Ich war schon immer ein Skeptiker bezüglich seiner Kommunen-Pläne. Ich wusste, dass das nicht gut gehen kann mit Otto Muehl, denn ich kannte seinen Charakter. Er war von einer gewissen Schizophrenie gezeichnet. Er hat sich immer sehr schnell für irgendetwas begeistert und konnte schon im nächsten Moment alles wieder über den Haufen werfen. Meine Frau und ich waren damals noch ein paar mal zu Besuch in der Kommune. Als wir dann aber bei einer Veranstaltung Zeugen einer Kindesbestrafung wurden – der angesprochene Film zeigt diese Szene – waren wir fassungslos. Meine Frau hielt dann eine Brandrede: „Ihr Schweine, das nennt ihr Erziehung..!“ Wir waren entsetzt und haben dann jeden Kontakt zu Otto Muehl abgebrochen.
Ist es nicht längst überfällig, Fehler und Verbrechen, die damals im Namen der sexuellen Befreiung begangen wurden, aufzuarbeiten?
Ja. Teilweise ist das ja auch schon passiert, es gibt Bücher und Filme.
In Deutschland wird immer wieder die Pädophilen-Vergangenheit bei den Grünen diskutiert.
So viel ich weiß stammten ja die ersten Ideen einer Freigabe von Pädophilie aus Holland. Ich fand das immer abscheulich. Als Vater einer mittlerweile erwachsenen Tochter will ich mir das gar nicht ausdenken, hätte so etwas ihr widerfahren können.
Für viele 68er – wie auch für Otto Muehl – war die bürgerliche Kleinfamilie die Keimzelle der Unfreiheit. Sie hingegen leben seit über 50 Jahren mit Ihrer Frau Anni zusammen.
Für mich war das immer klar, ich hatte nie ein Problem mit dieser Form des Zusammenlebens. Bei Otto Muehl muss man bedenken, dass der maßgebliche Grund für seinen Hass auf die Kleinfamilie in der Erfahrung mit seiner eigenen lag. Der Vater ist im Krieg gefallen, die Mutter kannte ich als labile, ältere Dame, die immer mit einem Bein in der Psychiatrie stand. Otto Muehl konnte damit nie umgehen. Beispielsweise wurde ich einmal Zeuge, wie er seine Mutter heftig attackierte. Ich bin daraufhin erschrocken aus der Wohnung gestürmt. Das war sehr prägend. Auch Muehls eigene Kriegserfahrung und seine erste Frau spielten eine Rolle. Während er in U-Haft saß, ist die mit einem anderen Mann zusammengezogen. Das hat ihn sicherlich sehr gekränkt.
Wie wichtig war und ist Ihre Frau für ihre Arbeit?
Außerordentlich wichtig. Vor allem in meiner aktionistischen Zeit. Sie steht mir bis heute als Beraterin und Organisatorin zur Seite.
Haben Sie Liebe und Sexualität jemals getrennt?
Nein. Ich habe das nie getrennt – für mich war das immer als eine Einheit zu betrachten.
Pornografie gibt‘s übers Internet heute in jedem Kinderzimmer. Trotzdem, so scheint mir, wird Nacktheit außerhalb der Pornografie heute wieder stärker tabuisiert. Ist die Gesellschaft in Wahrheit nicht genauso verbohrt wie damals?
Ja, es gibt eine merkwürdige, zwiespältige Einstellung der Gesellschaft zur Nacktheit. Wo liegen denn außerdem die Grenzen zwischen Pornografie und angenehmer Nacktheit? Pornografie ist für mich einfach die Illustration der Dummheit. Der Ablauf in einem Porno geschieht doch immer nur nach dem Schema „F“ – die Ästhetik, die man da bemüht, ist ja fast schon spießbürgerlich. Man sieht das doch auch daran, dass sich ernsthafte Schauspieler nie wirklich an dieses Feld gewagt haben. Es ist einfach zu dumm. Wenn bei einer Dame der Rock hochfliegt und ein Gesäß sichtbar wird, schreien alle auf, während im stillen Kämmerchen die Pornos laufen. Die Gesellschaft ist da sehr schizophren.
In diesem Jahr starb nicht nur Otto Muehl, sondern auch Ihr Freund und Weggefährte Alfons Schilling.
Alfons Schilling war mein erster ernst zu nehmender Diskussionspartner und Künstlerfreund. Unsere künstlerischen Wege trennten sich später. Sein Tod ging mir besonders nahe. Mit jedem Tod eines Weggefährten rückt die Tatsache der eigenen Vergänglichkeit einen Schritt näher.
In Ihrer frühen Schaffensphase wurden sie oft von Selbstzweifel geplagt. Wie wichtig ist es, sich selbst und sein Tun zu hinterfragen und wann wird es zur Qual?
Natürlich ist die Selbsthinterfragung wichtig. Allerdings wurde es bei mir doch einige Male auch zur Qual, wenn ich beispielsweise große Werke selbst vernichtet habe. Heute frage ich mich da schon: „Um Gottes Willen, warum hast du das nur gemacht?“ Beispielsweise habe ich einmal ein ganzes Jahr über an einem literarischen Werk geschrieben und bei uns in der Wohnung war es kalt. Meine Frau und ich haben dann Blatt für Blatt in den Ofen geworfen und sind daneben gestanden. (lacht) Das war schon auch ein Akt der Selbstbeleidigung – eine Eigenschaft, die ich im Laufe der Zeit gelernt habe, abzubauen.
Sie haben sich später auch immer wieder schriftlich zur Tagespolitik geäußert. Sahen sie das auch als ihre Pflicht an? Immerhin sind sie mit staats- und religionskritischen Aktionen bekannt geworden.
Ich tat das einerseits aus Pflicht und auch aus einer Laune heraus. Wollte schon immer einmal eine Kolumne in einer Zeitung schreiben, um meinen politischen Gedanken auch ein bisschen Luft zu machen. Ich sah das als Ventil. Auch viele andere Künstler – mir kommt gerade Joseph Roth in den Sinn – haben das gemacht.
Haben Sie sich mit Staat und Religion heute ein Stück weit versöhnt oder sind Sie unverändert kritisch?
Mit dem Staat brauchte ich mich eigentlich nicht versöhnen, denn er musste ja zu mir kommen. Und das hat er ja dann auch gemacht. Richtig angefeindet wurde ich – und vor allem auch Hermann Nitsch – dann nur noch von rechten Politikern wie Jörg Haider. Was die Religion betrifft, da gäbe es keinen Anlass, dass ich militanter Atheist wäre. Ich lasse sie in Ruhe, aber ich kritisiere natürlich in meinen Schriften den Vatikan und weise häufig auf die blutige Vergangenheit des Christentums hin.
Kann Papst Franziskus in der katholischen Kirche etwas bewegen?
Schwer zu sagen. Was auf alle Fälle immer bleibt, ist die Verlogenheit der Diktatorenverehrung. Denn jeder Papst ist – das liegt in der Natur dieses Amtes – weit weg von Demokratie. Und jeder Papst der sich demokratisch öffnet, gefährdet damit diesen ganzen Betrieb. Das ist nun einmal so. Wenn die Kirche beispielsweise dagegen ist, dass ich nach einer Scheidung noch einmal heirate, dann brauche ich auch keine Hostie schlucken, dann rechne ich ab mit dieser Kirche. Das ist zutiefst diktatorisch.
Woran liegt es, dass noch immer so viele zu dieser Kirche stehen?
Sicherlich nicht am Glauben. Zu einem großen Prozentsatz liegt es wohl an der Unbildung. Die Leute wissen ja vielfach gar nicht, welche Verbrechen auch im Namen der Kirche passiert sind. Zum Teil ist das Volk ein Trottel.
Rechtspopulismus und EU-Kritiker bekommen in der Krise Zulauf, in Ungarn erleben wir ein Comeback des repressiven Staates. Wohin geht ihrer Meinung nach dieses Europa?
Es ist wohl zu befürchten, dass nationalistische Tendenzen nicht gebremst werden können. Das ist zutiefst bedenklich. Noch gibt es Auswege, aber die Tendenz ist erkennbar.
In ihrem Heimatbundesland Steiermark konnte die FPÖ bei der letzten Wahl erstmalig stimmenstärkste Partei werden. Wie erklären Sie sich die massiven Zuwächse?
Zunächst will ich auch die Gegenseite nicht unerwähnt lassen: Dass in der Stadt Graz erstmalig Die Grünen eine Mehrheit erreichen, damit hatte niemand gerechnet. Dass aber die Arbeiterschaft – so fern es sie noch gibt – heute mehrheitlich zur FPÖ übergelaufen ist, das ist mir unverständlich. Die zwei Hauptgründe für die Zugewinne in der Steiermark waren wohl die Strukturreformen der großen Koalition, die ich für notwendig und sinnvoll halte und das Thema Pflege, wo zu wenig staatliche Mittel da sind.
Hat im Kampf gegen Rechts nicht auch die österreichische Kunstszene in den letzten Jahren zu wenig beigetragen? Die letzte Aktion gegen die FPÖ, die für Aufsehen sorgte, war die Containeraktion des Deutschen Christoph Schlingensief.
Eindeutig ja. Ich für meinen Teil hätte in diese Richtung leider nichts Positives mehr beitragen können, weil dann hätte meine Gegnerschaft sofort meine Geschichte ausgegraben und mich als verurteiltes Uniferkel diskreditiert. Ich war hier blockiert. Aber es läge wohl an Künstlern der jüngeren Generation, Ähnliches wie Schlingensief zu inszenieren.
Sie lagen nach einem Schlaganfall im Koma und mussten mühsam das Sprechen wieder lernen. Was geht einem da durch den Kopf?
Nicht viel. (lacht) Ich muss sagen, ich habe den Schlaganfall aber gar nicht als besonders unangenehm empfunden. Ich habe nur hinterher gestottert. Die Logopädin habe ich dann in meiner Art Wortverdrehungen zu machen gleich als „Logoblödin“ begrüßt. Der hat das nicht so gefallen. Habe mir das Stottern dann selbst wieder wegtrainiert, indem ich zuhause auf und ab Hölderlin-Gedichte gelesen habe. Die sind sehr anspruchsvoll und eigneten sich daher gut. Nach einem halben Jahr war die Stotterei dann auch weg. Merkwürdigerweise nicht beim Schreiben.
Welche Rolle spielten Drogen und Alkohol in Ihrem Leben und bei Ihren Aktionen?
Während meiner Aktionen war ich immer im vollen Bewusstsein, habe dabei keine Drogen genommen. Beim Schreiben habe ich in der Frühzeit öfter Tabletten geschluckt, eher als Aufputschmittel um wach zu bleiben. Bei Haschisch ging bei mir gar nichts, hat mir nie viel gegeben. Ich wurde da immer nur dumm und blöd, saß dann vor einem weißen Blatt Papier und konnte überhaupt nichts aus mir rausholen. Auch mit Alkohol vertrug sich das nie gut bei mir. Der spielt natürlich schon eine Rolle. Aber nicht mehr die scharfen Sachen. Aus Vernunft lasse ich die mittlerweile weg und bleibe eher beim Bier.
Warum haben Sie damals beschlossen, doch nach Österreich zurückzukehren?
Meine Frau und ich wollten eigentlich nicht mehr zurück, sondern hatten ein Ziel in Italien in Aussicht. Die Pläne haben sich dann aber verflüchtigt. Warum wir zurück nach Graz gegangen sind, dafür war wohl hauptsächlich unsere Tochter verantwortlich, die dort häufig in den Ferien bei meinen Schwiegereltern war. Ihr gefielen vor allem die Leute dort. Sie hat immer gesagt, die seien besser gekleidet als die Berliner. (lacht)
Gibt es dann doch so etwas wie Heimat?
Ja schon. Wäre Unsinn das zu leugnen. Allerdings hatte ich schon noch das alte Graz der 50er-Jahre in Erinnerung und da war die Stadt eine Katastrophe. Provinziell und nazistisch. Man konnte ja quasi in kein Wirtshaus gehen, ohne einen Judenwitz zu hören. Da musste ich raus.
Wien, Berlin, Graz. Was genau unterscheidet Ihre drei zentralen Wirkungsstätten?
Der Unterschied besteht darin, wonach ich Heimweh habe. Das ist einerseits La Gomera auf den Kanarischen Inseln – unser Domizil wenn man so will – und andererseits Berlin. Meine Frau und ich haben da noch richtige Gefühle. Bei Wien gibt‘s die interessanterweise nicht. Berlin war für uns damals weitestgehende Freiheit, Wien hingegen immer nur Zwang. Ob das heute noch so ist, das weiß ich nicht. Wir haben das auch nie erprobt.
Der Wiener Aktionismus ist heute zurecht auch Teil des Kunstunterrichts an den Schulen. Sind Sie froh über diese Anerkennung?
Ja sehr froh. Das kann nur förderlich sein für das Geschichtsverständnis der jungen Leute, wenn man ihnen das gut erklärt. Ich selbst habe es allerdings immer abgelehnt Lehraufträge anzunehmen. Das hätte wohl meiner Arbeit nicht gut getan.
Wie viel arbeiten Sie noch?
Aus gesundheitlichen Gründen beschränkt sich meine Arbeit auf die Planung eines weiteren Buches. Mehr will ich dazu auch noch gar nicht verraten.
Wenn Sie heute in den Rückspiegel sehen: Gibt es Dinge, die Sie bereuen – die Sie heute anders machen würden?
Nein bereuen auf keinen Fall. Anders machen würde ich wahrscheinlich gewisse Aktionen. Bei einigen habe ich nachträglich zu kritisieren, dass ich damals zu ungeduldig war.
Welche Ihrer jüngeren Künstlerkollegen begeistern Sie gegenwärtig?
Ich schätze einige junge Künstler. Von Begeisterung kann aber keine Rede sein.
Ist es für junge Künstler im Vergleich zu damals schwieriger oder leichter geworden Beachtung zu finden?
Schwieriger ist es für junge Künstler geworden, weil das Anliegen, eine schnelle Karriere zu machen, im Vordergrund steht. Alle sind bemüht mit aller brachialen Kraft sich durchzusetzen und das führt oft einfach zu schlechten Werken. Ich glaube, dass sich die ganze künstlerische Ausbildung ja total verändert hat. Das Bestreben, handwerklich etwas zu lernen – zum Beispiel ein guter Zeichner zu werden – wird nicht mehr so gefördert. Mit „anything goes“ wird heute schon an die Akademien gegangen. Vielfach kennen sie die Gefahren des Kunstmarktes noch nicht und wollen sich aber trotzdem unbedingt da hinein begeben.
Es zielt also alles auf den schnellen Erfolg ab?
Ja. Viele sind aber leider auch zu unwissend, zu ungebildet was die Kunstgeschichte betrifft.
Sie sind jetzt 75. Haben Sie eine Botschaft an jüngere Generationen?
Nicht verlassen auf die Massenmedien. Denen eher reserviert gegenüberstehen. Echte Handarbeit sollte auch wieder geübt werden. Jeder möchte Zeitschriften oder Ähnliches gründen und es hapert aber an echtem Handwerk. Zurück zum Analogen: Siebdruck und so weiter. Ja und wenn einer begabt ist, im Sinne von Besessenheit, dann auf alle Fälle dabei bleiben und sich durch nichts und niemanden abbringen lassen.