EINE HÖHERE ART VON HUMOR (SPIEGEL ONLINE)

Veröffentlicht am Autor admin

Wer war Christoph Schlingensief? Ein entschiedener Zeremonienmeister des Irgendwie, ein furioser Widerspruch, ein obszöner Scharlatan, ein Schamane der Wahrheit – und vielleicht der letzte deutsche Künstler. Eine Retrospektive in Berlin widmet sich nun dem Künstler und seinem Werk.

Eine Kolumne von Georg Diez

Christoph Schlingensief war ein deutscher Künstler, mit allem, was dazugehört: Wurst und Wagner und Weihrauch und Wahnsinn, ein wenig Hitler, ein wenig Hass, ein wenig Liebe und sehr viel Leiden, an diesem Land, das eine Krankheit war, an der er starb.

Er war der Zeremonienmeister des Irgendwie, das aber mit einer großen Entschiedenheit, und als er heiliggesprochen wurde nach seinem Tod 2010, war das peinlich und unnötig, weil die Verehrung, wie bei fast allen Heiligsprechungen, von den falschen Leuten kam, den Verwaltern eines deutschen Mittelmaßes, das Schlingensief immer bekämpft hat.

Aufnahme aus Schlingensiefs mehrteiliger TV-Show "Freak Stars 3000", die 2003 auf VIVA ausgestrahlt wurde

Er hatte dabei diesen Hang zum Gesamtkunstwerk, der eine landestypische Eigenschaft zu sein scheint, denn ein Künstler ist in Deutschland nicht einfach jemand, der malt oder Filme macht oder Videos dreht und vegan lebt oder Steaks liebt und säuft und kokst oder die Kinder in die Schule bringt in der Früh – ein Künstler ist in Deutschland jemand, der die ganze Last der Geschichte schultert und dazu grimmig schaut.

Schlingensief aber hat oft gelacht. Das Lachen war bei ihm eine einzige, fließende Bewegung, die Einatmen und Ausatmen zugleich war. Es war eine höhere Art von Humor.

Er lachte in New York, als er mit Schläfenlocken und einem schwarz-rot-goldenen Hooligan-Schal auf einem Schiff vor der Freiheitsstatue stand und einen Koffer ins Wasser warf, in dem ganz Deutschland war, und der Koffer trieb dann auf dem Hudson oder East River, statt unterzugehen, so wie eben diese verdammte deutsche Vergangenheit nie und nie verschwindet.

Ein einziger, furioser Widerspruch

Er lachte, als er mit der U-Bahn durch den Berliner Untergrund ratterte für seine MTV-Show „U3000“, er lachte, als er in Bayreuth für seinen „Parsifal“ einen Hasen langsam per Video verrotten ließ, er lachte, als er mit sechs Millionen Arbeitslosen in den Wolfgangsee sprang, er lachte, als er seine Partei „Chance 2000“ gründete, er lachte, als er in Zürich „Hamlet“ mit Neonazis machte, er lachte und war dabei bitterernst.

Schlingensief war ein einziger, furioser Widerspruch, das wird jetzt wieder deutlich bei der großen Schlingensief-Retrospektive in den Berliner Kunst-Werken – und ein Schlüsselereignis, ein deutsches Urmoment wird in dieser Ausstellung in den Mittelpunkt gestellt, das den ganzen Schlingensief, aber auch den ganzen deutschen Irrsinn zeigt.

Im Jahr 2002 während des Bundestagswahlkampfs tauchte Schlingensief im Vorgarten des FDP-Politikers Jürgen Möllemann auf und rief: „Tötet Möllemann“, er schüttete Waschpulver auf ein Klavier und verstreute Papierschnipsel und wurde dann von Polizisten in die Mangel genommen – und wie Möllemann das alles bei seiner darauf folgenden Pressekonferenz mit ernstem FDP-Ton referierte und in seinen FDP-Kosmos übersetzte, ließ die Grenze zwischen Vernunft und Wahrheit tatsächlich tanzen.

Teilhabe und Sichtbarkeit für alle

Wer war hier der Scharlatan, wer war hier der Schamane? Wer machte Politik und wer Theater? Was war Kunst und was war Leben? Schlingensief reagierte mit einer Obszönität auf das, was er als Obszönität sah, das war sein Prinzip: Er sperrte Flüchtlinge in Wien in einen Container, eine Art Lampedusa-Big-Brother, und die Österreicher konnten entscheiden, welche Asylbewerber abgeschoben werden und welche nicht – das war im Jahr 2000, und die Härte und Wahrheit, die diese Aktion hatte, ist längst dem Schrecken und Wahnsinn gewichen, den die reale Abschottungspolitik Europas bedeutet.

Schlingensief, und das zeigt diese Ausstellung eindrucksvoll, war als politischer Künstler seiner Zeit voraus: Er schuf in seinen Filmen Bilder, die einen politischen Trash dem gegenüberstellten, was er als Trash-Politik sah. Er dachte Repräsentation neu und grundsätzlich, er forderte Teilhabe und Sichtbarkeit für alle. Er misstraute den Mechanismen der Macht, der Konstruktion von Erinnerung, der Schimäre der Identität. Vor allem in seinen theatralen Performances gelangen ihm Momente, bei denen die Demokratie ihr anderes, weniger medial formatiertes freundliches Gesicht zeigte.

Wer also war Christoph Schlingensief? Man kann ihm in dieser Ausstellung zuschauen, wie er ringt, mit sich selbst, mit dem Ministranten, der er war, mit dem Missionar, der er wurde; vor allem aber ringt er mit Deutschland.

Am Ende gab es zwei Opfer. Christoph Schlingensief war vielleicht der letzte deutsche Künstler.

SPIEGEL ONLINE vom 29.11.2013