Christoph Schlingensief hat Menschen und Medien bewegt. Er war ein heiliger Narr. Jetzt widmen die Berliner Kunst-Werke dem 2010 verstorbenen Künstler eine große Werkschau.
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Christoph Schlingensief hat Menschen und Medien bewegt. Er war ein heiliger Narr. Jetzt widmen die Berliner Kunst-Werke dem 2010 verstorbenen Künstler eine große Werkschau.
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Bildschirme überall. Viele dickbauchige Geräte, wie man sie vor fünfzehn oder zwanzig Jahren herumstehen hatte. Auf einem dieser Fernseholdtimer macht Rudolf Moshammer Bussi, ein noch sehr jugendlich wirkender Rolf Eden bleckt seine Zähne in die Kamera. Schnipsel aus „Talk 2000“, anno 1997. Die Beiträge für das WDR-Magazin „ZAK“ sind noch etwas älter, anno 1991–93, da wird berichtet über „Außerirdische – Nazis vom Mars“ und natürlich von den Oberhausener Kurzfilmtagen. Jürgen Möllemann ist, an der Wand vis-à-vis, in einem Mitschnitt von einer Pressekonferenz aus dem Jahr 2002 zu sehen. Der FDP-Politiker, der 2003 bei einem Fallschirmsprung ums Leben kam, war ein Spezialfreund des Künstlers, um den sich hier alles dreht.
Der wie ein starker Magnet wirkte: Christoph Schlingensief zog an, und er stieß ab.
Er war ein Narr und Entertainer. Er besaß spirituelle Kraft. Er war ein Gestikulierer, ein Protestierer. Das Wort, das ihm häufig angeklebt wurde, war: Provokateur. Christoph Schlingensief liebte es laut, wild, chaotisch, Karneval lag in seiner Kunst. Er war ein Katholik. Auch der Ketzer verdankt seine Existenz der katholischen Kirche. Im Hof der Kunst-Werke steht, klein und liebenswert und aus Holz, das Gehäuse der Schlingensief’schen „Church of Fear“ von der Biennale Venedig 2003. Sein Werk war, vorsichtig gesagt, umfassend. Ausufernd. Unfassbar in vielerlei Hinsicht. Auch in dem Sinn, dass nicht mehr darstellbar ist, was einmal explosive Energie des Moments war. Schlingensief hatte es nicht darauf angelegt, Werke von Dauer zu schaffen. Aber er achtete schon früh darauf, dass nichts verloren ging. So wurde das meiste aufgehoben. Der große Durcheinanderbringer und Überwältiger hatte Archivsinn.
Aino Laberenz, seine wunderbare Frau und Mitarbeiterin, und die Kuratoren Klaus Biesenbach, Anna-Catharina Gebbers und Susanne Pfeffer haben sämtliche KW-Stockwerke und Räume, bis in den letzten Winkel, mit Schlingensief-Dokumenten gefüllt. Eine weihevolle, museale Schau wollten sie nicht. Gegen diesen Eindruck arbeiten schon die Umstände, das Disparate des Materials, die Versammlung der Schnipsel. Der Teufel steckt im Detail, Gott in der Collage.
Helmut Kohl sollte regelrecht ausgetrieben werden
Man muss sich Zeit nehmen, schauen, hören, lesen. Also: wieder hören, aufs Neue sehen, nachlesen. Man war doch dabei, die dreißig Jahre, ab 1980. Man kann sich selbst beim Jüngerwerden oder Älterwerden, wahlweise, zuschauen, beim Rundgang durch die Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Erst sehr westlich, Schlingensief kam aus Oberhausen. Nachher Ossi-Wessi – und Österreich. Auf der Auguststraße stehen zwei Container der Ausländer-Rauswähl-Aktion bei den Wiener Festwochen 2000. Da hatte Schlingensief wieder blitzschnell reagiert und die TV-Reality-Show „Big Brother“ in die Wirklichkeit geholt.
Auf einer riesigen Fototapete sieht man lustige Menschen beim „Baden im Wolfgangsee“, eine medienträchtige Aktion im Wahlkampf der Riesenspaßpartei „Chance 2000“. Das deutsches Nervensägenmassaker. Damals, im Sommer 1998, war Helmut Kohl noch Kanzler. Und Christoph Schlingensief lief über sämtliche Kanäle. „Tötet Helmut Kohl“, hieß eine seiner Paraden im Prater der Volksbühne. Es gab Ärger, aber die Schlingensief-Show ging weiter. Der Altkanzler lebt noch, gezeichnet von schwerer Krankheit. Der Künstler, der ihn einst austreiben wollte, ist im August 2010 gestorben, mit 49 Jahren, lange vor der Zeit.
Christoph Schlingensief hatte über die Ausstellung in den Kunst-Werken noch selbst nachgedacht, in seinem letzten Jahr. Aber was heißt Ausstellung? Es ist ein Panorama, eine Geisterbahn, ein Parcours, ein imaginäres Museum, denn so viele Arbeiten können gar nicht gezeigt werden, oder nur in Ausschnitten. Das gilt besonders für die Inszenierungen an der Volksbühne, wo Schlingensief 1993 mit „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ seine Pandorabüchse öffnete.
Vor allem aber funktioniert diese Veranstaltung als Zeitmaschine. Der Deutsche Pavillon auf der Biennale Venedig 2011, ein Jahr nach seinem Tod, konnte nur ein Akt der Trauer sein, des Festhaltens dessen, der entglitten war. Dort hatte Aino Laberenz das Bühnenbild zur „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ rekonstruiert. 2012 erschien seine posthume Autobiografie „Ich weiß, ich war’s“. Jetzt stellen sich die Fragen der Nachwelt. Was bleibt? Was war das eigentlich, dieser Sturm namens Christoph?
Es kann nicht oft genug gesagt werden: Christoph Schlingensief fehlt
Ein Kosmos. In der KW-Halle steht sein „Animatograph“. Gebaut aus Militärschrott vom Flughafen Neuhardenberg, wo die Installation 2005 entstand. Sie ist begehbar, sie dreht sich. Ein Bunker für Mythen der nordischen Welt, der Südhalbkugel. Bilder von Hitler, Honecker, Nixon. Gerümpel. Jonathan Meese und Anselm Kiefer hätten das finstere Biotop mitbauen können. Doch Schlingensief hatte eine verspielte Leichtigkeit, die anderen Bilderschleudern und Mythenprotzen abgeht. Der „Animatograph“ sollte eine Bayreuth-Beschwörung sein, ein Voodoo-Apparat. Er weist den Weg nach Afrika. Dort legte er im Februar 2010 den Grundstein für das Operndorf von Ouagadougou, ein soziales Zentrum mit Schule und Krankenstation. Auch diesem Projekt begegnet man hier. Es ist das ferne, wachsende Gegenstück zur Berliner Ausstellung. Sie gilt, das wird hier klar, einem der größten Künstler, die dieses Land hatte.
Wer sonst hätte Trash und Richard Wagner in sich vereint – und gezeigt, dass Bayreuth auch sehr flach ist und das Trashige unseren Alltag überwölbt und sehr bedeutend sein kann? 2004 inszenierte er auf dem Grünen Hügel den „Parsifal“, mit großem Ernst. Mit einer Todesahnung vielleicht, wer weiß. Er hat darüber viele komische und traurige Geschichten geschrieben in seinem letzten Buch. Und er hat heimlich, weil die Festspielleitung es verboten hatte, einen Film gedreht von den Bayreuther Proben, mit der Kamera im Schuh, wie es heißt. Dieses Filmdokument, dieses gewaltige Wackeln ist jetzt in der Ausstellung zu sehen, Schlingensiefs geheimes Bayreuth. Sonst wurde ja kein Mitschnitt veröffentlicht.
Und obwohl es endlose Aufnahmen gibt von den Theatersachen, den Fernsehauftritten, der Berliner U-Bahn-Show, auch wenn die Kunst-Werke ihm ein eigenes Kino eingerichtet haben, für seine Filme, auch wenn auf Podien über ihn geredet wird und, etwas verspätet, Mitte Dezember ein schöner dicker, reich illustrierter Katalog erscheinen wird – er fehlt. Das ist zwar schon oft gesagt worden in den vergangenen drei Jahren, aber es wird dadurch nicht falsch. Christoph Schlingensief fehlt.
Vielleicht wird man ihn in zwanzig Jahren anders sehen. So wie es Joseph Beuys ergangen ist, auf den sich Schlingensief gern bezog. Heute betrachtet man die Arbeit des Schamanen mit dem Hut, seine Wolfsrudel und Glühbirnen nüchterner. Beuys scheint aus der Zeit gefallen zu sein, während Rainer Werner Fassbinder und sein Filmschaffen seltsamerweise nie gealtert sind. Oder als klassisch gelten. Im Frühjahr 2014 geht die Schlingensief-Ausstellung in verkleinerter Form nach New York ins MoMA PS. Was werden die Amerikaner sagen? Patti Smith hat Schlingensief bewundert.
In der Halle um den „Animatographen“ stehen die Bäume des „Pfahlsitzwettberwerbs“ (Venedig 2003). Ein kahler Wald, Bühnenbild eines abgespielten Stücks. Aber die Aura dieser wahnwitzigen Aktion ist immer noch nicht ganz verweht. Wagner wabert durch den Raum, Techniker legen letzte Hand an die Projektoren. Blumen werden gebracht. Alles scheint darauf zu warten, dass der Regisseur erscheint und mit dem Megafon seine Heiligen auf die Säulen kommandiert.
KW Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, 10117 Berlin, bis 19. 1. 2014. Info: www.kw-berlin.de
Quelle: Der Tagesspiegel vom 29.11.2013. Von Rüdiger Schaper