DAS JENSEITS IST AFRIKA (DIE WELT)

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Eine große Schau in Berlin feiert den sehr lebendigen Künstler Christoph Schlingensief, der vor drei Jahren starb

Von Matthias Heine

Wer dem Gerücht geglaubt hat, drei Jahre nach seinem Tod falle der Aktionskünstler Christoph Schlingensief allmählich dem Vergessen anheim, weil seine Werke ohne die Realpräsenz des Künstlers wirkungslos seien, der wird derzeit in Berlin eines Besseren belehrt. An einem grauen Dezember-Wochentag hat sich schon kurz vor der Öffnung um zwölf eine kleine Schlange vor den Türen der Schau in den Kunstwerken gebildet. Auch wenn sich die überwiegend im Schwarz reiferer Bildungsbürger gekleideten Besucher drinnen auf drei Etagen verteilen, bleibt der Eindruck, dies sei eine der bestbesuchten Ausstellungen des Instituts für Gegenwartskunst im Bezirk Mitte.

Auf eine paradoxe Weise wird dann doch der Eindruck, es gebe keine Schlingensief-Kunst ohne den Meister, bestätigt: Von zahlreichen Bildschirmen lacht einen der 2010 an Lungenkrebs gestorbene Meister an. Er war sehr häufig der Hauptdarsteller seiner Inszenierungen. Von seinen Theaterstücken muss man sagen: Diejenigen, in denen er sich zurückhielt, waren die langweiligsten. Die überwältigendsten waren die, in deren Dienst er sein eigenes Charisma stellte.

Nicht nur wegen des Halbdunkels, das die Videos zu besserer Geltung bringen soll, fühlt man sich wie beim Gang durch eine unterirdische Nekropole. Aus vielen Bildern schauen einen Tote an. Neben Schlingensief selbst sind das etwa der behinderte Werner Brecht, Darsteller in zahlreichen Theaterproduktionen, der Schauspieler Alfred Edel, Protagonist vieler früher Filme, und – am unerwartetsten – der bei einem Fallschirmabsprung gestorbene Jürgen Möllemann. Dem Politiker hatte Schlingensief, weil er im rechten Wählerreservoir fischte, eine Aktion gewidmet. Mit der erinnerte er daran, dass die von der FPD fetischisierte Zahl 18 für die Anfangsbuchstaben des Namens Adolf Hitler steht.

Möllemann war der Vorsitzende der Liberalen in Nordrhein-Westfalen, und nicht nur an seinem Beispiel zeigt sich, wie heimatverbunden die Kunst Schlingensiefs bis zum Schluss war: Der gebürtige Oberhausener berief sich lebenslang auf das in dieser Stadt erlassene Kino-Manifest, er ging beim Experimentalfilmer Werner Nekes im benachbarten Mülheim in die Lehre, er drehte erste Fernsehbeiträge für den WDR und er hetzte die Figuren seiner frühen Filme durch die verlassenen Industrielandschaften des Ruhrgebiets – am eindrucksvollsten in „Das deutsche Kettensägenmassaker“ . Ein Objekt, in das sich jetzt Besucher setzen können, um an der Wand der Kunstwerke hochzufahren, ist vom Einbau einer Fahrtreppe ins Haus seiner alten Eltern inspiriert, und seine Theater-Kirche der Angst war der Herz-Jesu-Kirche in Oberhausen nachgebaut, in der er Messdiener war und in der am Ende auch seine Trauerfeier stattfand.

Das Ruhrgebiet, die 68er, Katholizismus, Fluxus, Beuys, Fassbinder, Richard Wagner, CDU, FDP – es ist schon ein sehr bundesrepublikanischer Boden, auf dem Schlingensiefs Kunst gedieh. Vielleicht kommt man ihm am nächsten, wenn man ihn den letzten großen Westkünstler nennt. Obwohl seine Karriere an einer Ost-Institution den entscheidenden Schub bekam: Vor 20 Jahren, am Silvesterabend 1993, hatte Schlingensiefs erste Inszenierung „100 Jahr CDU“ in der Berliner Volksbühne Premiere. Seine Filme in Ehren, doch der Weg nach Bayreuth, Brasilien und in den Weltruhm führte übers Theater. In der exotisch östlichen Volksbühne arbeitet er sich allerdings weiter an westlichen Themen ab: Von Helmut Kohl, den er 1996 in einer Performance symbolisch zum Tode verurteilen ließ, bis zu Lady Diana, die er von Jenny Elvers spielen ließ.

Den Göttern des Ostens hat er nur zweimal gehuldigt: mit einer großartigen Performance über „Die letzten Tage der Rosa Luxemburg“ (Hauptrolle: Sophie Rois) und mit einem Stück, das die Frage stellte: „Was sind schon 100 Jahre Brecht gegen 5000 Jahre Japan?“ Letzteres gehörte zu seinen schönsten Theaterarbeiten und ist leider so vergessen, dass es nicht mal auf der offiziellen Schlingensief-Homepage in der Liste seiner Theaterarbeiten genannt wird.

Die Kunstwerke haben eine lange Beziehung mit Schlingensief. Ihr Gründer Klaus Biesenbach, der heute die zum MoMa gehörende Kunsthalle PS1 in New York leitet, ermöglichte Schlingensief 1999 genau dort im Rahmen der Ausstellung „Children of Berlin“ seine erste Aktion in Amerika: Als orthodoxer Jude verkleidet, warf er für „Deutschland versenken“ 99 deutsche Souvenirs in den Hudson-Fluss: Unter anderem eine tote Maus, einen Bierkrug, eine benutzte Damenbinde, eine Eintrittskarte für den Besuch der Reichstagskuppel und das Bitte-nicht-stören-Türschild aus einem Hotel in Chemnitz.

Herzstück der Ausstellung ist nun der Animatograph, über den Christoph Schlingensief selbst schrieb – das muss man einfach länger zitieren: „Der Animatograph ist eine Drehbühne, eine ,aktionistische Fotoplatte, ein sich permanent fortbewegender Transformationskörper. Der Animatograph projiziert die kulturellen und zivilisatorischen Kämpfe in Fragen der Religion, Politik, Geschichte und Familie. Die Auseinandersetzung des Menschen mit höheren Kräften, wie Geistern, Göttern und sagenhaften Helden sind Ausdruck dieses Kampfes, ebenso wie Reinheitsrituale und symbolische Verformungen. Der Animatograph verbindet nordische/europäische und afrikanische Traditionen und verknüpft filmische Visionen des Wagnerianischen Grals mit den schamanistischen Sitten und Bräuchen Afrikas sowie der isländischen Sagenwelt.“

Wenn man heute um den Animatographen herumgeht, der fast den gesamten Erdgeschoss-Ausstellungsraum füllt, fallen einem vor allem die Stehlampen auf, die ihn einrahmend beleuchten. Sie sehen so heimelig nach Oberhausener Barock aus, dass sie im Wohnzimmer von Schlingensiefs Eltern hätten stehen könnten, aber auch – das ist die Dialektik der deutschen Kleinbürgerlichkeit – im Führerbunker 1945.

Vielleicht war das die Wurzel seiner späten Liebe zu Afrika: Hierhin hat er zwar Wagner und Hitler mitgebracht wie transportable Hausdämonen, aber die Sonne, die schon die ersten Menschen beschien, warf noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Mythen aus dem Norden. Während der unzufriedene Allerweltsintellektuelle Erleuchtung in Asien sucht, faszinierte ihn der Synkretismus des ältesten Kontinents. „Hier wechselt fast jeder mindestens einmal im Leben die Religion“, schwärmte er über Burkina Faso, wo sein lebendigstes Vermächtnis steht: das Operndorf. Für Schlingensiefianer, das wird in Berlin deutlich, besteht allerdings kein Anlass zum Religionswechsel.

Aus: Die Welt vom 6.12.2013