„ES WAR EINE PERMANENTE VERUNSICHERUNG“ (ART-MAGAZIN)

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Er kannte das Enfant terrible Christoph Schlingensief mehr als 15 Jahre aus näherer Warte: Klaus Biesenbach führte früh mit Schlingensief Aktionen durch, hat seine polarisierende Kraft oft auch sehr direkt zu spüren bekommen. art sprach anlässlich der Ausstellung „Christoph Schlingensief“ in den Kunst-Werken Berlin mit dem heutigen New Yorker Chefkurator am Museum of Modern Art und Direktor des PS1 über das künstlerische wie gesellschaftspolitische Potenzial des viel zu früh gestorbenen Künstlers und dessen „Unruh“.

Interview: BIRGIT SONNA

art: Welche Herausforderung stellte sich denn an eine Ausstellung von Christoph Schlingensief nach dessen erster Schau posthum 2011 auf der Biennale in Venedig?

Klaus Biesenbach: Eine retrospektive Ausstellung wäre im deutschen Pavillon nie möglich. In Venedig ging es mehr oder weniger um eine Installation von Schlingensief, die stark auf einem bestimmten Kontext, seiner „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ basierte.

Unsere Ausstellung möchte schon einen umfassenderen, breiteren Einblick geben. Wir haben nur die Bücher und die Hörspiele nicht ausgestellt, weil man zu deren Rezeption eine große Ruhe braucht. Ansonsten haben wir schon versucht, die verschiedenen Bereiche in Schlingensiefs Werk abzudecken.

Schlingensiefs Arbeiten lebten ja von der enormen körperlichen und charismatischen Präsenz. Man könnte sagen, dass Schlingensief eine Art Energieprinzip war. Was er auf das Publikum übertragen hat, war eine Art von Virus, lebte stark von seiner Person. Wie kann das eine Ausstellung überhaupt einfangen?

Ich finde, das gelingt vor allem additiv zwischen den einzelnen großen Arbeiten. Man hört im Treppenhaus wieder und wieder Schlingensiefs Regieanweisungen. Dann, im Hof ertönt der Jingle von „Freund! Freund! Freund!“. Christophs unglaubliche Dynamik wird aber auch spürbar in den Installationen, insbesondere im „Animatographen“. Wenn man den betritt, ist man selbst mitten im Bild, wirft einen Schatten und bewegt sich durch die Installation. Man ist hier in gewisser Weise gleichzeitig Täter und Opfer, Regisseur und Schauspieler, Akteur und Rezipient. Ich glaube, dass Schlingensiefs menschliche Präsenz, nicht so sehr die seines Gesichtes oder seiner Person ist, sondern eher die Virulenz seines Kunstbegriffs.

In der Tat herrscht eine gewisse Aufregung in der ganzen Ausstellung. Sie beschrieben einmal, dass Schlingensief die Gabe hatte, in allen erdenklichen Situationen den Adrenalinspiegel steigen zu lassen – auch Ihren.

Ich glaube, dass der Ausnahmezustand in gewisser Weise in jeder seiner Arbeiten eine Rolle spielt. Der Ausnahmezustand in der viel zu kleinen Kirche. Der Ausnahmezustand im Container. Der Ausnahmezustand auf der rotierenden Animatographenfläche. Der Ausnahmezustand seines Schauspielerensembles in der „Deutschlandtrilogie“, wo es immer um extremste Situationen wie den Koitus oder den Exitus geht. Insofern ist alles auch aufgeladen mit Schlingensiefs Energie.

Sie haben auf der Pressekonferenz erwähnt, dass Sie ein bisschen erschrocken waren über die Nachrufe, die nach Schlingensiefs Tod geschrieben worden sind. Warum?

Ich war sehr erschrocken über die Konsensmaschine, die auf einmal angeworfen wurde. Denn Schlingensief war immer ganz vorsichtig, ganz misstrauisch dem Konsens gegenüber. Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass er sofort gegengesteuert hat, sobald er auf zu viel Einvernehmliches stieß.

Vielleicht stand man nach seinem Tod auch etwas unter Schock und hatte mehr die auch krankheitsbedingten Auftritte in seinen letzten Lebensjahren im Kopf als etwa die gesellschaftspolitisch brisante Aktion „Ausländer raus!“ 2000 in Wien.

Der Tod hat natürlich etwas ungeheuer Versöhnliches auch Kritikern gegenüber. Man redet nicht schlecht über Tote. Mich hat dennoch sehr überrascht, wie auf einmal so ein Konsens hergestellt wurde, dass es sich bei Schlingensiefs Werk um wichtige Kunst handelt. Die ersten zehn, 15 Jahre, in denen ich ihn kannte, hat er eigentlich immer ungemein polarisierend gewirkt. Aber vielleicht brauchte es einfach diese Zeit, bis sich sein Kunstbegriff durchgesetzt hatte und letztendlich auch akzeptiert werden musste.

Kann man das Bildnerische bei einem Künstler, der so extrem zwischen den Medien und Gattungen oszillierte, überhaupt definieren?

Man kann das Bildnerische vielleicht eingrenzen in ästhetische Formen, bei denen man eigentlich nicht erkennt, ob sie ernst oder unernst, witzig oder grausig, Kunst oder Leben, Slapstick oder Tragik sind. Also, Schlingensief hat bildnerisch Situationen hervorgerufen, die in einer ungeheuren Ambivalenz stehen. Von einem formalem Aspekt aus betrachtet, konnte das nur erreicht werden durch Überlagerung, Collage, Doppelbelichtung, durch eine Überforderung von verschiedenen Medien und ein Überangebot von Information.

Diesen Abbildungszwang wendete er in seiner Neugierde auf den Menschen an. Man ist ein verantwortlicher Mensch, ein ungehorsamer Mensch, ein mutiger Mensch. Damit gingen seine Appelle einher: Was bedeutet es, ein Künstler zu sein? Was bedeutet es, ein Bürger zu sein? Was bedeutet es, ein Künstler und ein Bürger zu sein? Er hat dieses Menschenbild, dieses kompromisslose Herausfinden, Sezieren, Diagnostizieren und dann auch Behandelnmüssen und -wollen durchdekliniert durch alle möglichen Praktiken: Im Film, im Theater, im Hörspiel, in der Oper, Ausstellungspraxis, bildenden Kunst.

Ich hatte immer den Eindruck, dass er eine Weile in eine Welt eintaucht – ob nun ins Theater oder in die bildende Kunst – diese ausschöpft und dann wieder in ein anderes System geht und auch dieses an die Grenzen treibt.

Ich glaube, er hat eine Ausweitung jeglichen Bereiches betrieben. Und er brauchte all diese Bereiche gleichzeitig, weil er sonst zu früh an ein Ende gestoßen wäre, da das Medium gar nicht so schnell mit ihm mitwachsen konnte. Insofern war es wichtig, dass er immer noch einen anderen Sektor fand, der gerade noch flexibel war.

Sie hatten viele persönliche Begegnungen mit Schlingensief, auch krasse, extrem herausfordernde Begegnungen: Angefangen bei der Documenta X im Jahre 1997, als Schlingensief von der Polizei verhaftet wurde. Was ist das Prägendste für Sie gewesen?

Das herausragendste, prägendste Erlebnis war eher etwas Kontinuierliches und zwar, dass man sich ihm nicht wirklich annähern konnte. Man konnte sich ihm inhaltlich nur insofern annähern, wie man sich einem Tennisspieler während eines Tennisspiels annähert. Man schlägt einen Ball rüber und bekommt ihn wieder zurück, deshalb kann man gar nicht so nah rankommen. Schlingensief hat den Ball nie fallen lassen, aber auch das Spiel nie beendet. Es hat immer ein ungeheures Wachsamsein bei ihm gegeben! Egal, was man ihm hingeworfen hat, es kam immer etwas zurück. Und er verkörperte in gewisser Weise eine permanente, nicht ruhen wollende Herausforderung.

Diese Überforderung, die er im Grunde für jeden anderen ausmachte, hat er auch auf sich angewendet und ist eigentlich nie zur Ruhe gekommen. Es war ständig inhaltlich wie formal ein Voraustreiben und Provozieren und Weiterbohren. Und dann diese Rastlosigkeit! Ich habe das schon einmal mit dem Pendel in einer Uhr verglichen, mit der „Unruh“. Christoph Schlingensief war halt extrem diese „Unruh“. Man konnte sich nie zurücklehnen und sagen: Jetzt ist einmal Waffenstillstand – dann kam sofort die volle Breitseite.

Sie meinten einmal, dass man bei Schlingensief nie wusste, auf welcher Seite man in seinen Augen stand. Wie fühlte sich dieses Kippmoment an?

Es war so, dass Schlingensief einem das Gefühl geben könnte, als ob man Teil seiner Partei wäre und dann war man plötzlich doch Teil des Establishments. Man war einerseits Part seiner künstlerischen Bewegung und dann wiederum der Klassenfeind. Das heißt, man war gleichzeitig innen und außen. Dies hat er einem extrem zu spüren gegeben, es war eine permanente Verunsicherung.

Meinen Sie, es ging anderen auch so? Zum Beispiel jener Truppe von Schauspielern – Freakstars 3000, ein Projekt, das geistig und körperlich Behinderte bewusst in den kreativen Prozess des Filmemachens einbezog –, mit denen er kontinuierlich gearbeitet hat.

Ich hatte zu seinen Lebzeiten den Eindruck, dass die Behinderten vielleicht die einzigen waren, die er wirklich ernst genommen hat. Ich hatte bei ihnen nicht so das Gefühl, dass sie für Schlingensief außen standen. Aber vielleicht ist das auch nur meine begrenzte Projektion. Das müsste man mal die einzelnen Beteiligten fragen.

Sie hatten dieses doch einschneidende New-York-Erlebnis mit Schlingensief. Als Sie 1999 die nicht unberechtigte Angst hatten, dass sie als einladender Kurator am MoMA PS1 nach einer Schlingensief-Aktion am Hudson River des Landes verwiesen werden würden. Was ist seinerzeit genau passiert?

Es war so, dass Christoph Schlingensief als orthodoxer Jude verkleidet war, zugleich aber einen riesigen Fußballfan-Schal um den Hals gewickelt trug und einen Koffer mit 99 Objekten dabei hatte. Bei den Objekten handelte es sich um Parkknöllchen und die unterschiedlichsten kleinen, zusammengesuchten Objekte, die für ihn Deutschland repräsentierten. Er wollte diesen Koffer vor der Freiheitsstatue im Hudson River versenken – von der Fähre aus geworfen. Selbst zwei Jahre vor 9/11 sah das schon ziemlich wie ein Terrorakt aus. Als Deutscher vor der Freiheitsstatue niederzuknien, seine falschen „orthodoxen Locken“ ebenso wie seinen Schal abzulegen und eben diesen Koffer in den Hudson River zu werfen – das war schon sehr verdächtig.

Es sah eher so aus, als ob ein deutscher Hooligan das Symbol des Ansehens der Amerikaner, die Freiheitsstatue, beschmutzen würde. Das schrie förmlich nach Skandal und Verhaftung und Ausweisung. Das konnte eigentlich nur gut gehen, weil seinerzeit einfach so viel Presse anwesend war, wir standen förmlich im Blitzlichtgewitter von Kamerateams. Und dann diese ungeheure Spannung, dass Christoph sich wieder einmal grenzwertig mit einem machtvollen System auseinandersetzt. Es stand im Grunde gar keine böse Absicht dahinter. Er wollte die Freiheitsstatue ja nicht bombardieren, er wollte nur ein Ritual vollziehen, eine Performance durchführen.

Wenn man in die Kunstszene nach New York blickt, gibt es derzeit starke, performative Tendenzen, wie sie sich etwa auf der Biennale „Performa“ abbilden. Gleichzeitig vermisst man hier den politischen Background.

Man hat in den USA fast den Eindruck, dass man mit Kunst die Politik gar nicht erreichen kann. Dass ein Performancekünstler wie Christoph Schlingensief in die Tagespolitik eingreift, Parteifunktionäre an deren Wohnort provoziert, einen Regierungschef in Handlungsbedarf versetzt, ist von einer Künstlerperspektive aus den USA einfach nicht denkbar. Vielleicht hätte Schlingensief, wäre er dort geboren, es aber auch in den Vereinigten Staaten geschafft.

Man darf sein Engagement zwar nicht auf das Nationale reduzieren, dennoch war Schlingensief nun einmal ein deutscher Künstler, der in seinem Handlungsspielraum die Grenzen hier bis auf das Äußerste ausgedehnt hat. Es ist ja rein spekulativ, was er getan hätte, wenn er in einem anderen Land geboren worden wäre. Ich denke nur, dass für ihn die deutsche Geschichte, sowohl die Geschichte des Zweiten Weltkriegs als auch Kolonialgeschichte, aber immer auch die jüngere deutsche Geschichte der sechziger und siebziger Jahre und dann natürlich das aktuelle Tagesgeschehen immer ein Punkt war, an dem er sich reiben musste. Er konnte sich gar nicht nicht damit reiben.

Mit welcher Resonanz auf die Schlingensief-Ausstellung rechnen sie in New York?

Ich hoffe, dass zumindest klar wird, wie wünschenswert es in Amerika wäre, dass Kunst sich stärker politisch engagiert. Es werden jetzt in New York keine Scharen von Künstlern auftreten, die auf einmal ein starkes politisches Engagement haben. Dennoch hoffe ich, dass dieses Manko, dieses Defizit deutlich wird.

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Christoph Schlingensief
bis 19. Januar, Kunst-Werke – KW Institute for Contemporary Art, Gegen Vorlage ihrer artcard erhalten unsere Abonnenten ermäßigten Eintritt. Es wird ein Katalog erscheinen. Weitere Stationen: ab März 2014: MoMA PS1, New York
www.kw-berlin.de

Aus: Art Magazin vom 4.12.2013