Was bleibt von Christoph Schlingensief? Drei Jahre nach dem Tod des zärtlich-zornigen Künstlers feiert eine große Berliner Ausstellung sein schier unerschöpfliches Lebensgesamtkunstwerk.
von Georg Seeßlen
Keiner konnte so erfolgreich scheitern wie Christoph Schlingensief. Seine Kunst begann erst wirklich jenseits des Scheiterns. Seine Kunst begann sich von sich selbst zu befreien.
Klar, immer schon waren Künstler gescheitert, an der Gesellschaft, an der Welt oder an sich selbst. Aber die Kunst der Kunst ist es ja, dieses Scheitern zu verschleiern. In Rekordumsätzen auf Auktionen, in angestrengten Diskursen, in der Einrichtung des Museums. Immer dreht sich die Gesellschaft ihre Kunst so, dass sie am Ende etwas bedeutet und ihr nutzt. Christoph Schlingensief machte da nicht mit.
Deswegen hat man ihm das Etikett eines Enfant terrible angehängt, deswegen fiel man nur zu gern auf Oberflächenskandale herein, auf das „Tötet Helmut Kohl“ oder die wiederkehrende Metapher des Kannibalismus. Um nicht zu sehen, dass Schlingensiefs Angriff auf die Kunstwelt und den Rest der Republik viel ernster war.
Jetzt, drei Jahre nach seinem Tod, erinnert eine große Retrospektive in Berlin an ihn und daran, dass seine radikale Kunst in einer Zeit entstand, als alle Revolten beendet schienen. Das war in den achtziger Jahren, die wir im Nachhinein wohl als das Jahrzehnt der großen Konventionalisierung betrachten. Es steckte etwas vom Spirit des Punk in Schlingensiefs Kunst. Wo Konformismus herrscht, hilft nur Selbstermächtigung.
Natürlich stellt sich die Frage, wie hat er das gemacht, der Christoph Schlingensief? Zunächst gibt es dafür schlichte technische Antworten: Es ging in seinen Filmen, in den Installationen, den Bühnenstücken, Aufführungen im öffentlichen Raum wie der Containeraktion und „Bitte liebt Österreich!“, in Operninszenierungen in Bayreuth oder Manaus erst einmal darum, die Grenzen zwischen der Kunst und dem Leben aufzulösen. Das sagt sich so leicht und ist Programm in der Kunst, seitdem jemand auf die Idee kam, nicht für die göttliche Ordnung und das Wesen der Dinge, sondern für ein Publikum zu arbeiten. Aber meistens bleibt es bei symbolischen Handlungen, Publikumsbeschimpfungen oder Happenings. Hingegen treffen sich bei Schlingensief alle Ideen zu ebendiesem Zweck: die Kunst, die immer willkürlich bleibt, und die Wirklichkeit, die immer politisch ist, aufeinander loszulassen.
Wer sind die Zuschauer und wer die Akteure? Wer ist „echt“ und wer „Abbildung“? Wo ist das Theater im Leben und das Leben im Theater? Wer in ein Schlingensief-Werk gerät, freiwillig oder nicht, ist verloren. Seine Kunst erreicht die Tempel der Hochkultur und rumort in den Niederungen der Medienmaschinen, sie verlässt das Museum und zieht um die Häuser, sie zerrt das Private ins Politische und das Politische ins Private, sie reicht nach Brasilien und schließlich ins Schlingensiefsche Höllenparadies Afrika. Und umgekehrt zieht sie die Dinge in sich hinein wie in ein Labyrinth, private Gegenstände, Familienromane, Politiker, Paare, Passanten … Wir sehen mit den Augen der Kunst die Wirklichkeit, wie sie mit ihren Augen die Kunst sieht, die ihrerseits nun mit den Augen der Wirklichkeit zurücksieht.
„Die Kunst ist ausgebrochen“, das war eines seiner wunderbaren Schlagworte, die immer zugleich zu viel und zu wenig Diskurs enthalten, sich immer zugleich ganz und gar richtig anhören und sich bei näherem Hinsehen poetisch verflüchtigen. Wie eine Krankheit, wie eine Gefangene ist sie ausgebrochen, die Kunst. Aber warum muss die Kunst ausbrechen? Aus ihrem Gefängnis, aus ihrem ewigen Latenzzustand? Christoph Schlingensiefs Kunst bestand darin, Dinge aufeinander loszulassen, weil die Ordnung, in der sie zueinander stehen, durch und durch falsch ist.
Das begann mit den Filmen, die zugleich eine Linie des Erzählfilms aus dem Neuen Deutschen Film fortsetzen und die Techniken des Experimentalfilms nutzen wollten. Sie wirken wie die wundersame, freejazzige Komposition von cineastischen Fehlern. Das Fehlermachen war überhaupt der radikale Anspruch dieser Kunst. Der letzte rebellische Anspruch des menschlichen Faktors. In einem seiner Interviews (die, nebenbei gesagt, allesamt Dokumente großartigen bis albernen Scheiterns „ordentlicher“ Kommunikation sind), behauptete Christoph Schlingensief, er wäre gern der „Fehlermann der Nation“.
Das setzte sich fort in den kreisenden Konfrontationen mit zwei innig gehassliebten Vorbildern, Rainer Werner Fassbinder und Joseph Beuys. Schlingensief setzte das Scheiternde in ihrer Kunst fort und zerstörte das Mythische darin. Denn ihn interessierte nicht das Fetischhafte, nicht der Tempel der Kunst, in dem sich alle Widersprüche fügen, sondern im Gegenteil, der Aufbruch, das Wagnis: Es ist in den Köpfen. Vielleicht.
Viel musste Schlingensief nicht erfinden, denn alles, was seine Kunst brauchte, das lag schon herum. „Alle Bilder sind schon da gewesen“, sagte er. „Wir müssen sie nur erwecken.“ Das Aufeinander-Loslassen ist eine Erweckungsarbeit. Alle seine Filme sind, unter anderem, Übermalungen berühmter Vorbilder, von Veit Harlan über Pasolini bis zur blood poetry von The Texas Chainsaw Massacre . In vielen seiner Installationen stecken Reenactments früherer Kunstereignisse wie der von Günter Brus und Valie Export. Auf den gefährlichen Eingriff in den Kunstbetrieb durch Dinge des realen Lebens – die echten „Behinderten“, die echten Nazis, die echten Asylbewerber, die echte ALS-Krankheit auf der Bühne, und nicht zuletzt der echte Christoph Schlingensief – folgt der gefährliche Eingriff der Kunst in das Leben. Auch da wird etwas aufeinander losgelassen.
Schlingensiefs Kunst ist nicht realistisch. Sie bildet die Wirklichkeit nicht ab, sie „versteht“ die Wirklichkeit nicht, noch will sie sie erklären. Sie akzeptiert sie vielmehr als Material. Man kann dieses Verfahren auch „naturalistisch“ nennen, wenn man eine Wendemarke benötigt. Zum Naturalismus gehört auch körperliche Drastik. Der Blick auf das Hässliche, das Böse und das Groteske, was sich der bürgerliche Realismus nur in Andeutungen gefallen lässt.
Das also ist das erste Geheimnis der Kunst von Christoph Schlingensief. Es besteht darin, die Dinge aus zwei Welten aufeinander loszulassen. Auch das ganz Persönliche und das Universale. Die Idee und den Körper. Man kann, was dann geschieht, nicht wirklich mehr kontrollieren. Aber man kann zur Stelle sein. Und da haben wir das zweite Geheimnis seiner Kunst. Es liegt im Zur-Stelle-Sein. Vielleicht nicht so wie bei den beiden Vorgängern Fassbinder und Beuys. Sie machten sich zum Zentrum ihrer Kunst. Fassbinder war mehr oder weniger vollständig zu erklären mit dem Begriff eines „Fassbinderfilms“, und Joseph Beuys war mit Hut und Weste zur Stelle, wenn es galt, die „soziale Plastik“ zu öffnen. Schlingensief aber kam eher von der Seite, eher nomadisch, ein Reisender, ein Forscher, manchmal gleich in mehrerlei Gestalt. Niemals hierarchisch, zentralistisch. Immer aufmerksam. So ließ er noch einmal die zwei fundamentalsten Impulse aufeinander los: seinen Zorn und seine Zärtlichkeit.
Was gibt es da zu verstehen, in der Kunst von Christoph Schlingensief? Natürlich reicht die Beobachtung nicht aus, bei Schlingensief sei es stets darum gegangen, Dinge aufeinander loszulassen und dann als Künstler zur Stelle zu sein, um, nicht zuletzt, auch Verantwortung zu übernehmen für das, was eine ausgebrochene Kunst angerichtet hat. Zum Scheitern verurteilt, und damit natürlich vollkommen angemessen, scheinen die Versuche, Schlingensief zu „interpretieren“. Der Versuch, all die Quellen, die Objekte der Übermalungen, die Zitate, die Parodien, die Aneignungen zu sortieren, muss ins Leere gehen. Der Trick einer Kunst der Wiedererweckung und der unmöglichen Konstellation – eine Partei als Kunstprojekt, ein Spiel mit den bösartigen Impulsen des „Publikums“ auf einem „Heldenplatz“, ein Opernhaus in Afrika, das sich, schneckenförmig, von einem Fitzcarraldoschen Wahnsinn in eine warmherzige Menscheneinrichtung wandelt – liegt in der Herstellung einer für die Kunst sehr schwierigen Zeit. Der Gegenwart. Das Ergebnis des Aufeinander-Loslassens und des Zur-Stelle-Seins ist eine radikale Gegenwärtigkeit der Kunst. Schlingensiefs Werke, auch die kleineren, versteinern nicht, werden kaum zu Objekten der Begierde reicher Sammler, lassen sich am Ende nicht diskursiv bändigen, und sie werden, so viel scheint sicher, im Museum nicht zur ewigen Ruhe kommen. Ein Platz, kein Denkmal für Schlingensief!
Doch Schlingensief-Kunst der Gegenwärtigkeit ohne die Gegenwart des Künstlers – geht das? Der Mainstream der Kunst schien sich nach dem Tod von Schlingensief einen Moment der Verklärung zu gönnen, um dann erleichtert weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Der Schlingensief-Angriff der Kunst auf die Wirklichkeit und der Wirklichkeit auf die Kunst scheint abgewehrt. Das perfideste Ideologem dabei lautet: Die Kunst von Christoph Schlingensief war gebunden an die Person Christoph Schlingensief. Die Dinge müssen weiterhin aufeinander losgelassen werden, die Kunst muss weiterhin ihre nomadischen und barbarischen Energien freisetzen, wenn sie mehr sein will als nur Dekoration der feinen Unterschiede in der jeweils neuesten Klassengesellschaft. Wenn sie das Unsichtbare sichtbar machen und das Scheitern als Chance verstehen will.
Was aber passiert nun in der großen Retrospektive in Berlin? Offensichtlich geht es den Kuratoren Klaus Biesenbach, Anna-Catharina Gebbers und Susanne Pfeffer darum, Schlingensief, wie man so sagt, „in seiner Zeit“ zu erklären. Sie bieten ein museales Stationendrama zur Entwicklung seiner Kunst und klären seine Leitmotive. Der Platz, der dabei Schlingensief zugewiesen wird, ist freilich eher einer in der Kultur- und Mediengeschichte als einer in der Kunst- und Filmgeschichte. Was da fehlt, ist nicht nur die Gegenwärtigkeit und das Scheitern. Es ist „die Methode Schlingensief“.
So werden die Schwerpunkte seiner, nun ja, Auseinandersetzungen präsentiert, die Medien, der Faschismus, die Familie, als hätten die Begriffe alle Fragwürdigkeiten verloren, die sie bei Schlingensief aufwiesen. Längsschnitt, Querschnitt, die Sache wird gut vermessen.
Der Gegenwartskünstler Schlingensief wird hier, deutlicher, als es nötig wäre, in die Vergangenheit gesetzt. Die Ambivalenzen werden weggeschnitten, es ist, als wäre da immer der richtige Künstler zur richtigen Zeit zur Stelle gewesen, um richtig zu reagieren. Der Mantel der Gewissheiten deckt sich über das wechselseitige Scheitern der Kunst und der Gesellschaft. Wir sehen hier Schlingensief beim Verschwinden zu.
Vielleicht ist dies also eine interessante Ausstellung zum Thema „Deutschland und die Welt im letzten Drittel des vergangenen und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, gesehen durch die Augen des intermedial arbeitenden Künstlers Christoph Schlingensief“. Seiner Kunst kommt man so aber nicht besonders nahe. Wir tun uns wohl mit den Denkmälern leichter als mit den Plätzen.