Raus aus den Tabus, rein in den Betrieb: Das Phänomen Schlingensief in den Berliner Kunstwerken
Von Matthias Reichelt
An Christoph Schlingensief scheiden sich nicht mehr die Geister. Die Vorwürfe der Scharlatanerie und des hysterischen Aktionismus waren schon vor seinem frühen Tod mit nur 49 Jahren im Jahre 2010 nahezu verstummt. Der von ihm teilweise brachial angegegriffene Kulturbetrieb hatte ihn längst eingemeindet.
Schlingensief war notorisch umtriebig und den meisten Menschen, die ihn kennenlernten, sofort sympatisch. Sein Charme öffnete ihm die Türen für die gewagtesten Projekte. »Scheitern als Chance«, der Slogan der von ihm anläßlich der Bundestagswahl 1998 mitgegründeten Spaß-, Aktions- und Künstlerpartei »Chance 2000«, wäre ein gutes Motto für seine genreübergreifende Produktion, die nie elaboriert und glatt war, sondern stets disparat und öfter auch mißlungen.
Wie in Versuchsanordnungen ließ er in verschiedenen Formaten Prominente, Künstler und ganz Unbekannte aufeinandertreffen, wobei er als polarisierender Moderator auftrat. In seinen Theaterstücken wagte er sich immer an die großen Themen und Fragen und brachte sie mit Zorn, Spieltrieb und dem Mut zur banalisierenden Geste in guten Momenten in eine rauschhafte Form. Die traditionellen Regeln des Theaters wie auch die des Kinos wurden von ihm konsequent ignoriert, wie er auch die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer störend fand.
Menschen von den gesellschaftlichen Rändern ins Zentrum zu rücken, Behinderte nicht auszugrenzen und sie als Schauspieler auf die Bühne zu holen, ohne sie lächerlich zu machen, das war ein großes Verdienst von Schlingensief. Unvergeßlich wie Achim von Paczensky (1952–2009) Heiner Müller oder Hildegard Knef spielte oder Mario Garzaner, der spätere Hauptkandidat der Partei »Chance 2000«, kongenial als R. W. Fassbinder auftrat.
In den starken Momenten seiner Filme und Theaterstücke verwurstete Schlingensief gekonnt Geschichte und Politik, um sie als Farce zu starken Bildern zu komprimieren. Dabei mußten alle Seiten Federn lassen, es gab keine Tabus. Schon seinen ersten abendfüllenden Spielfilm »Tunguska – Die Kisten sind da« (1983) beschrieb epd-Film als »ultimative Abrechnung mit dem Avantgardefilm der 60er Jahre!«
Den Kunstwerken in der Berliner Auguststraße ist es nun in einer sehenswerten multimedialen Ausstellung – die auch in New York im PS1 gezeigt werden soll – gelungen, das Phänomen Schlingensief anhand von Ausschnitten aus ausufernd großen Filmwerk, Bühnenbauten und Installationen zu veranschaulichen. Schlingensief legte von Beginn seiner Karriere ein schier unheimliches Produktionstempo vor, als ob er bereits geahnt hat, daß ihm nicht so viel Zeit bleiben würde. In der großen Halle der KW ist eine Version von Schlingensiefs Animatograph aufgebaut, den er für eine Ausstellung 2005 in Island realisierte. Eine Drehbühne ist mit mehreren begehbaren Ebenen ausgestattet, und der Zuschauer wird damit Teil des Ganzen, konfroniert mit einem komplexen Bildchaos, aus dem sich nicht ohne weiteres eine schlüssige Botschaft herausfiltern läßt.
Schlingensiefs frühe TV-Beiträge, die er 1991–1993 für das Magazin »ZAK« unter der Leitung von Friedrich Küppersbusch drehte, und seine Anti-Talkshow-Sendung »Talk 2000«, die im Privatfernsehen lief, enthalten Perlen des schrägen Humors. Sie sind im zweiten und dritten Stock der KW zu sehen. Da trifft der Filmemacher Walter Bockmeier auf Rudolf Moshammer mit seinem Hündchen Daisy. Sie debattieren mit Schlingensief über Arbeitslosigkeit und Scheißjobs, und der vermeintlich linke Bockmeier verteidigt die Jobs bei McDonald’s, während Mooshammer fast schon gewerkschaftstauglich eine gerechte Bezahlung für so eine miese Arbeit fordert.
Mit der Aktion »Ausländer raus« im Rahmen der Wiener Festwochen 2000 fand Schlingensief eine politisch sinnvoll zugespitzte Antwort auf den Rassismus in Österreich, der weit über die Klientel der Rechtsaußenpartei FPÖ hinausging: In Anlehnung an das populäre Format »Big Brother« wurde das Leben von angeblichen »Asylanten« in einem Container auf Monitoren nach draußen übertragen. Die Zuschauer durften im Internet darüber abstimmen, wer von ihnen aus Österreich rausgeworfen werden sollte.
Die weite Anerkennung dieser Aktion in der linksliberalen Öffentlichkeit war Schlingensief wiederum suspekt, was er 2008 in einem ausführlichen Interview mit Katrin Bauerfeind für 3sat zum Ausdruck brachte. Mit der Krebsdiagnose änderten sich sein Ton und seine Zeitökonomie: »Ich wundere mich, wieviel Wind ich früher geblasen habe, das kann ich jetzt nicht mehr, weil ich ja auch sehe, was andere für einen Wind blasen …« In den letzten Jahren seines Lebens forcierte Schlingensief die Realisierung seiner Idee zum Bau eines Operndorfes in Burkina Faso nebst Schule und Krankenstation. Mit diesem Projekt, dem seine Berufung zum Regisseur bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth 2004 vorausgegangen war, fand Schlingensief die Akzeptanz des breiten Kulturbürgertums. Er gewann Bundespräsident Horst Köhler als Schirmherr für die Opernstiftung. Damit war aus dem notorischen Störer endgültig Everybody’s Darling geworden.
KW bis 19.1.
Aus: junge Welt vom 20.12.2013 / Feuilleton / Seite 13