Der moderne Tourismus des Christoph Schlingensief (Intro.de)

Veröffentlicht am Autor admin

Von Johannes Finke, Matthias Mach

Christoph Schlingensief hat sich in Namibianach neun Jahren wieder an einen Film gewagt bzw. an das Abfilmen und Aufzeichnen, an das Bannen von Bildern auf Film, an das Dokumentieren und Konservieren seiner Ideen, seiner Arbeit, seiner Reisen, seiner Installationen. Er ist Kameramann, Schauspieler und Regisseur. Ein Drehbuch bzw. das tatsächlich zu Beginn existente Drehbuch wird nach zwei Tagen gestohlen bzw. ver- oder weggeworfen. Dafür ist Patti Smith mit dabei, sammelt Steine, fotografiert und reibt an ihrem an einer Halskette baumelnden Kreuz. Der Titel des von Frieder Schlaich, der auf die Frage, wann mit einem fertigen Film zu rechnen sei, mit einem kurzen und knappen „Kein Kommentar!“ antwortet, und der Filmproduktion 451 produzierten und von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary mitfinanzierten Werkes lautet schlicht, aber durchaus poppig sexy: „African Twin Towers“. Was ein bisschen nach „Black Emanuelle“ klingt, hält dann aber doch eine etwas breitere Assoziationskette bereit. Es geht um Wagner und Odin, um den Bundeskanzler und die Ära Schröder und um Frau Wiecorek-Zeul, um den Animatographen und die neu entdeckte Dreidimensionalität, um das Barackendorf „Area 7“, vielleicht auch um Aids, Hunger und Elend und eben um die Twin Towers. Unter anderem gibt es Klaus Beyer als Hagen von Tronje, Norbert Losch als Siegfried Wagner und Robert Stadlober als Wieland zu sehen, und auch Irm Hermann und Udo Kier sind mit von der Partie.

Den Remix, die Hauptspeise, das Intermezzo, das Sequel, das Remake oder einfach nur die logische Fortsetzung zum Film gibt es am Wiener Burgtheater. Patti Smith wird auch wieder dabei sein. Und Robert Stadlober. Und wahrscheinlich auch die kleine Drehbühne, die sie Animatographen nennen und über die Christoph Schlingensief in Island, wo er sie in Betrieb nahm, sagte: „Hier, an dieser Stelle, wo sich Neue und Alte Welt jedes Jahr um 8 mm entfernen, entsteht der Prototyp des Animatographen. Ein Seelenschreiber. Eine begehbare Fotoplatte. Ein organischer Körper zwischen dem ältesten Menschheitswunsch nach Verwaltung und dem Haus der unverwaltbaren Obsession. Hier, an dieser Erdkruste, reiten die Geister mit unseren Körpern; hier beginnt der größte Film, den ich jemals drehen werde. Vom Rand der Kruste reisen wir durch die Erde, durchqueren kulturelle und zivile Vergewaltigungen, erreichen im Oktober die afrikanische Unterwelt, suchen den Hammer, öffnen Löcher in den Wänden zur Nachbarwohnung und fliegen nach der Weltverkündung des Straußeneis nach Nepal, von da aus zu den Plastiksärgen in der amerikanischen Zwillingsgruft (…) Ein Traum, den ich mir erfülle. Denn jeder, der den Animatographen sieht, belichtet ihn. Und jeder, der ihn betritt, wird belichtet.“ Schlingensief fühlt sich wohl mit seinem neuen Spielzeug, das ihn in Bewegung hält, Perspektiven ändert, wiederkehren lässt, Input fordert und für den Künstler neue Bilder und Sichten produziert. Er nähert sich so dem Manifestativen, der sozialen Plastik, der bildenden Kunst. Er wird dies nach Namibia auch in Brasilien und Nepal versuchen.

Christoph Schlingensief beschreibt und bespielt die Welt, seine Welt. Zumindest versucht er das. Er bebildert diese Welt, versucht Sprachen und Rituale zu finden, Sprachlichkeiten zu definieren, die dem entsprechen, was nicht gesagt werden kann. Doch Schweigen liegt dem Berliner Filmemacher („Das Deutsche Kettensägen Massaker“), Theaterregisseur („Bringt Mir Den Kopf Von Adolf Hitler!“) und Aktionskünstler („Chance 2000“) fern. Seine Beschreibungen von Welt sind regelmäßig plakativ und laut, jedoch auch mehr als der Versuch des Auf- und Nachzeichnens von Realitäten – es ist der tatsächliche individuelle Vorgang einer subjektiven Beschreibung, einer Beschriftung in kapitalen Ziffern und Zeichen, groß, bunt, grell und trashig und doch weitab des medial generierten und normierten Zielgruppengeschmacks. Beweggründe sind nicht einfach auszumachen, auch nicht die Zielrichtung. Schlingensief verschränkt die unterschiedlichsten Bedeutungs- und Referenzsysteme und weist gen Himmel. Das wäre erst mal einfach formuliert.

Es ist schwer zu verstehen, aber die Persönlichkeit des Künstlers, Machers und Provokateurs Christoph Schlingensief, seine Anziehungs- und Ausstrahlungskraft, das bis dato geschaffene und kommunizierte Portfolio, das bereits Dekonstruierte einer offensichtlich partiell nicht mehr operablen Gesellschaft, die gnadenlose Selbstinszenierung, die messianischen Momente, die eigene Fehlbarkeit und der Anspruch auf Bestimmung, Erlösung und Selbstaufgabe im heilerischen Sinne erzeugen ein pseudo-energetisches Feld aus Sympathie, Fandom und Arzt/Patient-Bindung, das an kreativem Potenzial, historischen Links und Abstraktionsmöglichkeiten in Deutschland bzw. Europa seinesgleichen sucht. So schafft er es immer wieder, mit Bedeutungen, Absichten, Geschichten und Mythen zugepackte Schauspieler, Künstler und Underground-Ikonen, ebenso aber auch gesellschaftliche Outsider, Randfiguren oder einfach nur den sich aufopfernden Nachwuchs in sein ganz persönliches Aufarbeitungs- und Versuchslabor aus gewollten und nicht gewollten Assoziationen zu bewegen, um als Führer eines Ensembles neue Bedeutungen, Absichten, Mythen und Geschichten zu schaffen und zu etablieren. Jedoch sind die Arbeiten des Kultur, Kunst und Bilder schaffenden 45-jährigen Schlingensief zwar mäandernd interpretierbar, doch zu erklären sind sie kaum und zu verstehen nur sehr schwer bzw. eigentlich überhaupt nicht; da muss man sich nicht viel vormachen. Ob das letztendlich gut oder schlecht ist, weiß leider keiner so genau, auch nicht der Spiegel, der in Ausgabe 47/2005 unter der Überschrift „DADA – die Wüste bebt!“ zwar offensichtlich Sympathien für die Weiterführung des „inszenierten deutschen Wahnsinns“ hegt, sich aber letztendlich leider keine Mühe macht, dem, was da an Denk- und Arbeitsmaterial vorgesetzt wird, gerecht zu werden, aufzunehmen, weiterzuführen, sich einzulassen und anzudocken, um dann vielleicht mal doch relevante Reibung zu erzeugen. Denn Reibung macht bekanntlich warm und – setzen wir mal enormes Durchhaltevermögen voraus – vielleicht auch heiß und wird dann, stimmen die Grund- und Rahmenbedingungen, eventuell zu Strohfeuer oder einem Flächenbrand. Letzteres leider doch eher selten. Also bleibt die Frage, ob hier jetzt wirklich revolutionäres Potenzial versteckt ist oder ob der Volksbühnen-Held Christoph Schlingensief einer persönlichen Betty-Ford-Variante von Reha, Cleaning oder Self-Auditing aufgesessen ist, die man dann auf den Hügeln moderner germanischer Mythologien und Missverständnisse auch mal dem Pelz-, Geld- und Gesellschaftsboulevard präsentieren kann.

Ob das Trojanische Pferd da allerdings noch als antikes Strategiemuster herhalten darf bzw. muss, kann und sollte getrost angezweifelt werden, spielt aber für den Impresario keine große Rolle. Christoph Schlingensief hat sich aus deutschem Heldentum, der Geschichte des Scheiterns und den Unzulänglichkeiten moderner Informationssysteme und Abschreckungsmechanismen einen Stein gemeißelt, den er regelmäßig auf den Berg der eigenen Eitelkeiten zu rollen versucht. Diesen eigenen Eitelkeiten stellt er jedoch stets die Gruppe der ihn Umgebenden, der mit ihm Arbeitenden entgegen und schafft dadurch ein in Bewegung bleibendes, gemeinsam bewusst werdendes Kollektiv. Diese sich selbst gestellte und selbst gewählte Form der Dekonstruktion von „Ich“ und „Wir“ ist mehr als ehrenhaft, sie ist zwingend und in ihrer Motivation durchaus auch verständlich und aus vielen hier nicht zu erwähnenden Gründen gesellschaftlich relevant und intellektuell inspirierend und motivierend, doch den sich aktuell darstellenden und kommunizierten, zuweilen doch abschreckenden phänotypischen Elfenbeinturm braucht es eigentlich nicht, geht es doch um etwas anderes: „Wir sind alle Touristen“, sagte Dirk Baecker bei einem Vortrag vor sieben Jahren, „aber jetzt besteht die Möglichkeit, dass wir zwar als Touristen aufbrechen, aber nicht als Touristen, sondern mit Arbeits-, Liebes-, Wissens- und Glaubenskontakten zurückkommen.“ Christoph Schlingensief übernimmt dabei gerne die Rolle des Reiseleiters, den die anderen bezahlen, damit es nicht langweilig wird, damit er ihnen was erzählt und zuweilen an Orte führt, die man sonst vielleicht nie erfahren würde. Das macht ihn zurzeit als Repräsentant einer deutschen Gesellschaft und Katalysator für nachfolgende Generationen unverzichtbar. Auch wenn man das alles vielleicht nicht verstehen kann.