CAIPIRINHA ZUR AUFFÜHRUNG – WAGNER IN MANAUS (DIE WELT)

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Am Amazonas Oper inszenieren, das wollte schon der Abenteurer Fitzcarraldo. Christoph Schlingensief hat Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ umgesetzt.

So kann man Oper inszenieren: Christoph Schlingensief bei einer Probe zu „Der Fliegende Holländer“ im Urwald bei Manaus
Die kleinen Kinder wissen sicher nicht, an was für einem seltsamen, skurrilen, einzigartigen Opernereignis sie gleich teilnehmen werden. Noch sitzen sie neben den letzten Schienenresten der 1952 eingestellten Straßenbahn von Manaus vor dem schmuck sanierten Teatro Amazonas. Das Pflaster des gepflegten Platzes mit seinen schwarzweißen Wellenlinien soll den Zusammenfluss des Rio Negro und des Rio Solimones symbolisieren, die sich – wegen der unterschiedlichen Temperaturen und Wasserzusammensetzungen – nur zögerlich vor Manaus zum Amazonas vereinigen. Noch schauen die herausgeputzten Kleinen „Toy Story II“. Doch gleich wird auf die Leinwand die Premiere des „Fliegenden Holländers“ übertragen werden.

Schlingensief wagt Wagner im Urwald

Diesmal kam also nicht Enrico Caruso (der in Wirklichkeit nie kam) und auch nicht Fitzcarraldo alias Klaus Kinski, der meistenteils in Peru drehte, bis Manaus – sondern der mehr und mehr die Hochkultur durchpflügende Zivilisationsarchäologe Christoph Schlingensief. Er unterwarf sich nach Bayreuth eine weitere musiktheatralische Mythenschmiede: der absurden, weitab von jeder Zivilisation gelegenen Fantasie aus Marmor, Edelholzparkett, Gold, Stuck und Kristall. Kautschukbarone hatte das Theaster bauen lassen, die schnell reich geworden waren und ebenso schnell wieder verarmten. 1990 wurde das Haus renoviert, als Symbol für die Wiedergeburt der Amazonasgegend durch die Schaffung einer Freihandelszone.

Auch bei Wagner wird gehandelt

Was wunderbar zu Richard Wagners vierter Oper passt. Der skrupellose Kaufmann Daland handelt mit Waren, auch seine schöne Tochter Senta ist nur eine davon. Der zu ewiger Wiederkehr alle sieben Jahre verfluchte Holländer samt Schiff und Mannschaft möchte sich eine Seele erkaufen, um erlöst zu werden. Und Senta, die von ihrem banalen Jäger Erik eigentlich nichts wissen will, sieht in dem fremden Mann das Bild an der Wand, in das sie sich jahrelang schon verliebt hat – und opfert sich, kompromisslos, bis in den Tod. Der Erlösungsschluss der zweiten, auch hier in Manaus gespielten Fassung malt das strahlend schön aus. Doch wer opfert sich hier, wer wird erlöst? So konkrete Fragen beantwortet Schlingensief eher ausweichend. Am Ende schippert eine Amazonasbarkasse über endlose Fluten. Für die ewigen, auch hier vertretenen Operntourismen war das in jedem Fall ein Ablass. Trotzdem hagelt es aus dem Parkett und den vier schmucken Rängen mit ihren kannelierten Säulen und den Bronzegittern unter dem verblassten, mit rosa Götterwesen und edlen Portalen aufwartenden Deckenfresko viele Buhns und es knallen noch mehr Bravi. Dieses verwunschene Theater ist in einer Moderne angekommen, von der es nichts ahnte. Die hier sonst eher opernabstinenten Menschen, die einen à la Mailänder Scala gekleidet, die anderem im Amazonasschick, haben eine unbequeme Aufführung, sicher fasziniert, aber eben auch verstört genossen. Ob Luiz Fernado Malheiro, der Dirigent und Leiter des 11. Festival Amazonas de Ópera, wirklich wusste, auf was er sich da eingelassen hatte, als er nach dessen „Parzifal“ den genial beknackten Irrwisch Christoph Schlingensief für „O Naivo Fantasma“, den zum „Gespensterschiff“ gewordenen „Fliegenden Holländer“ verpflichtete?

Der Sänger als Ready-made !

Es war jedenfalls ein wunderbares Happening, von dem alle noch lange sprechen werden, die dabei waren. Schlingensieg hat bei dieser emphatischen Handlungsoper natürlich wieder seinen Unwillen in Sachen Personenregie zur Schau gestellt. Der Sänger als Ready-made.

Er hat das wettgemacht und überkleistert, durch seinen nie versiegenden, immer neu am konkreten Objekt variierten Assoziationsstrom. Dieser Gedankenfluss ist mindestens so breit wie der ewig mäandernde Amazonas. Und der „Holländer“ mutierte zum Brasilianer im Videomahlstrom.
Die forsch genommene Ouvertüre bleibt bilderlos, doch dann beamen sich auf der einer Gardine und auf Ersatzleinwänden die bildlichen Metaphern übereinander. Da sind wieder die Amöben-Filme, Daland aber ist ein Sektenanführer, sein Schiff ist ein Kirchenschiff. Seine Mannschaft: Priester und Ministranten; die des Gespensterschiffs sind männliche Nonnen. Tochter Senta steht bereits unter Dalands Kuratel, sein Steuermann wie auch der Holländer erleben Traum, Totem und Tabu, Todeserfahrungen – wie das vom Südwind getragene Mädchen (während im Zuschauerraum der Nordwind der Klimaanlage eisig bläst) im Schneewittchensarg. Eine freudianisches Kanapee ist ein wichtiges Requisit, aber auch ein heimisches Seniorenpaar, eine Zwergin, eine Jonathan Meese-Kopie. Sie alle wirken kuriosererweise nicht ausgestellt, nur selten benutzt. Schlingensief zeigt aber nicht nur im Dschungel gedrehte Filme von Orchestern zwischen Lianen und kultischen Handlungen in überwucherten Ruinen, sondern auch das missbrauchte Hochzeitspaar aus Pasolinis Film „Saló“, dem auf der eifrig kreiselnden Drehbühne ähnliches widerfährt.

Vergewaltigung und Köpferei

Die norwegische Hafenstadt mutiert später zur Favela samt Caipirinha-Bar, in der ebenfalls von Nonnen bevölkerten Spinnstube regiert die Karnevalskönigin Frau Mary; eine Kellnerin und die Zwergin drehen Kautschukknödel am Spieß, Senta verpuppt sich zusehend in einen rosa Tüllkokon. Da wird vergewaltig und geköpft, Schlingensief beschwört atavistische Rituale, knüpft schräge Querverbindungen, die plötzlich sonderbar logisch wirken. Dieser ganz und gar Latino-„Holländer“, weitab von jeglicher Zivilisation, in der Stadt ohne Straße zur Außenwelt, ist sich selbst genug und weißt doch über sich hinaus. Schlingensief sowie seine Dramaturgen Mathias Pees und Carl Hegemann riskieren das Kunststück, mal plakativ, mal preziös den „Holländer“ aufzuspalten, und ihn ethnisch vollkommen neu zusammenzusetzen. Was schlüssig bleibt, obwohl teilweise schauderbar gesungen wird. Nur der Daland von Stephen Bronk und der Steuermann Martin Mühle lassen so etwas wie Wagner konforme Melodiebildung und Vokalgestik erkennen.

Dieser „Holländer“ segelt davon und hebt ab. Am stärkten, wenn die verfremdet europäische Kunstübung am Ende des zweiten Aktes übertönt wird von der mit Urgewalt wohl zum ersten Mal in diese heil’ge Halle einbrechende Samba-Band. Die schlägt die Trommel, auf den Balkonen wird getanzt und auch auf der Bühne wippen die Hüften nicht nur der männlichen Federpfauen. Statisten, Chor, Sänger, Orchester, Publikum am Ende des Irgendwo in der kollektiven Beglückung: der totale Wagnerwahnsinn. Und draußen dampft es feucht nach dem letzten Amazonasregen.

DIE WELT vom 23. April 2007, Von Manuel Brug