SENTA TRIFFT SAMBA (FR)

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“Trandzendierung des Musikdramas zum spektakulären Gesamtkunstwerk”

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Manaus, die Amazonasstadt, liegt gleich hinter Alices Spiegel, in einem Wunderland hinter sechs Zeitzonen, über den Äquator, einen großen Ozean und den größten Teil eines Kontinents. In Manaus steht, als machtvolles Kultursymbol am Rande der Zivilisation, ein berühmtes Opernhaus, 1896 erbaut in der Blütezeit der Stadt während des Kautschukbooms, dann lange vergessen, zur Hundertjahrfeier prächtig renoviert und seitdem wieder mehr genutzt, vor allem für das Amazonas-Opernfestival, das vor einigen Jahren auch die brasilianische Erstaufführung von Wagners Ring präsentierte. Zur Eröffnung des elften Festivals gab es jetzt den Fliegenden Holländer in einer Inszenierung von Christoph Schlingensief.

A propos Wunderland: Manaus wurde nach dem Niedergang als wichtiger Außenposten wirtschaftlich künstlich beatmet, zur Freihandelszone und zum Einkaufsparadies gemacht. Neuerdings gewinnt die Region wieder verstärkte Aufmerksamkeit als Zentrum der die Naturschätze des Regenwaldes erschließenden und ausbeutenden Aktivitäten, ein Stück Fortsetzung des 19. Jahrhunderts im einundzwanzigsten. Amerikanisierung und Prosperität sind hier wie überall in diesem riesigen Land mit Händen zu greifen.

Vorspiel in der Stadt

Opernpflege ist in Brasilien hauptsächlich von launenhaften politischen Konstellationen abhängig, zunehmend auch vom Wohlwollen privater Sponsoren. Ohne einen resoluten künstlerischen Motor geht es nicht, und einen solchen hat das Amazonas-Festival in Luiz Fernando Malheiro, dem künstlerischen Direktor, der die meisten Termine selbst dirigiert, in diesem Jahr auch noch Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk. Am Schlingensief-Projekt beteiligten sich zudem die Goethe-Institute von Sao Paolo und Rio de Janeiro.

Als Wahrzeichen über der hügelig gebauten Stadt thronend – der von einem klassizistischen Viereck in Schweinchenrosa ummantelte Bühnenturm erinnert mit seinen bunten Azulejos an Moscheekuppeln in Samarkand –, sind das Opernhaus und die Fläche drumherum besonders gegen Abend urbaner Anziehungspunkt.

Er füllte sich mit Tausenden geduldiger Zuhörer und Zaungäste beim Eröffnungs-Straßenkonzert mit anschließender Prozession zum einen halben Kilometer entfernten Fluss. Dieser Abend war eine populäre Einstimmung in die brasilianische Wagneriade. Von den Außengalerien des Opernhauses erklang bereits der größte Teil des Fliegenden Holländers, von Verstärkeranlagen grausam vergrößert und verzerrt, so dass die Harfenstelle am Ende der Ouvertüre wie ein auf Autodächer niederprasselnder Starkhagel klang.

Als szenische Schauplätze dienten zum Teil die Prozessionswagen, die dann auch beim karnevalsek-festlichen Eilschritt zum Fluss mitwirkten. Niemand wunderte sich, dass auf dem gruseligen Geisterschiff des Holländers auch eine leichtgeschürzte Samba-Aktrice tänzelte. Nach dem Erlösungsschluss wurde ein kleines Feuerwerk eingelegt.

So überbrückten sich ozeanische Kulturabstände zwischen Amazonas-Anrainern und Wagner’schen Nordmeer-Visionen. Von der anderen Seite des Alice-Spiegels war’s wirklich nur ein kleiner Schritt.
Von Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Szenographie her wirkte der synkretistische Ansatz seiner zweiten Operninszenierung schon vertraut. Dennoch erlebte man eine in vielen Details atemberaubend-überraschend hybride Darstellung, die auch spezifisch auf die Lokalität diesesEreignisses abgestimmt schien und nirgendwo sonst sinnvoll gewesen wäre: Verschmelzung von Wagnermotiven und amazonischer Lebenswelt.

Schlingensief hatte zwei Monate nicht nur im Theater geprobt, sondern war auch über Land gegangen und hatte viel gefilmt. Dieses Filmmaterial integrierte er so in die Bühnenaktion, dass sich ein ebenso virtuoses wie labyrinthisches Gewebe ergab.

Die multimediale Polyphonie der filmischen und theatralischen Parallelerzählungen war nicht aufs klare Mitverfolgen der Handlung hin angelegt.Immer wieder gab es chaotische Stellen, bei denen der Kenner sich fragen mochte, wo gerade die singende Person sich befände. Und der Nichtkenner stoßseufzte: Wer singt denn da schon wieder? Leser der opaken „mestizischen“ Romane von Joao Guimaraes Rosa wissen solche Irrgarten-Poetik zu schätzen.

In Manaus sah es aber eher so aus, dass die deutschen Premierenbesucher mehr mit Schlingensiefs Optik anzufangen wussten als die einheimischen. So vertraut auch das katholische Ambiente des als Bischof unterm Baldachin einziehenden Daland sie berühren musste: Wo, bitte, blieb das Seemannswesen? Dafür Stacheldraht, Wachttürme und das Gewimmel von Komparsen, Behinderten, Zwergen und Kindern, das Fellini-Volk der Schlingensief’schen Humanität. Alles durchdacht und leitmotivisch multimedial ausgeführt, aber doch auch betäubend: Zuviele Bilder, zuviele Personen auf der Bühne. Und dadurch auch eine nicht immer nützliche „Entlastung“ der Sängerdarsteller.

Holländer in Blau

Die Wucht des Opernäußeren täuscht: Innen im Haus gibt es nur 700 Sitzplätze, und die Bühne ist kleiner als die in Mainz oder Schwerin. Zur Ausleuchtung genügten oft zwei seitlich postierte Männer mit Handlampen, und trotz munteren Drehbühnenwirbels wirkten die von Schlingensief entworfenen architektonischen Kulissenteile pappig. Sehr bedürftig also des filmischen Raffinements, das besonders triumphierte beim Holländer-Horrorchor im Schlussakt, der mit dem Einsatz des alten deutschen Experimentalfilms „Komposition in Blau“ von Oskar Fischinger grandios ins Wildbewegte gelenkt wurde. Weniger glücklich die filmische Verhackung der Senta-Ballade.

Am Schluss des 2. Aktes, wo alles sich zum bürgerlich-hochzeitlich Guten zu schicken scheint, platzte die Aufführung brillant aus ihren bis dahin noch mühsam haltenden Wagner-Nähten: Von hinten zog eine vielköpfige Schar von Sambamusikern mit Tschinellen, Rasseln und Handtrommeln ein und vollführte, mehr als zehn Minuten lang, unter der Aufsicht eines trillerpfeifenden, effektiv gestikulierenden Anführers ohrenbetäubenden Lärm. Die Trandzendierung des Musikdramas zum spektakelnden, spektakulären Gesamtkunstwerk vollendete sich in einer Zeitstrecke, die lang genug war, um den Eindruck eines aufgesetzten Gags durch ihre Impertinenz aufzulösen.

Riesenstimmen, die mühelos den Raum füllten: Eiko Senda als kraftvolle Senta, Gary Simpson als etwas unbedenklich intonierender Holländer, Stephen Bronk als sonorer Daland. Elaine Martorana aber war, mit ihrem gleißenden Stimmvolumen, eine geheimnisvoll-dämonische Voodoo-Priesterin. Zünftige Opernpoesie am Schluss: statt der irgendwie abhanden gekommenen Senta schwebt ihr pinkfarbenes Flauschgewand schnürbodenwärts.

En passant gab es einen ähnlich gekonnten Theatereffekt schon mitten im zweiten Akt als Umdeutung von Sentas Erschrecken vor dem leibhaftig vor ihr stehenden Holländer: Hier ist es Daland (forciert expressiv: Ricardo Tuttmann), der statt der scheinbar liebevoll sich ihm hingebenden Senta ein Phantom, ein Nichts in Händen hält. Luiz Fernando Malheiro dirigierte die robust, aber zuverlässig spielende Amazonas Filarmonica straff und unumwegig, und der in dieser Oper besonders hervortretende Chor singt mit frenetischer Hingabe.

FR vom 25.4.2007