DER FLIEGENDE HOLLÄNDER IN MANAUS – 1. REPRISE (DER NEUE MERKER)

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Kritik zum Fliegenden Holländer in Manaus/Brasilien beim XI. Amazonas Opernfestival am 22. April 2007

Drei Tage nach der Premiere erlebte die Neuinszenierung des Fliegenden Holländers durch CHRISTOPH SCHLINGENSIEF am Teatro Amazonas ihre erste und vorläufig letzte Reprise. So, wie der Regisseur seine Arbeiten stets als „work in progress“ versteht, führte er auch hier bereits einige Änderungen durch, die mehr Ruhe und auch Konsistenz in seine Interpretation des Wagnerschen Frühwerks brachten, u.a. durch das weniger häufige Einfahren des Projektionsschleiers. Auch erschienen seine in Manaus und Umgebung gedrehten Filmsequenzen nun länger und ruhiger und hatten so eine nachhaltigere Wirkung. Dabei wurde in den Szenen stets auf Überblendungen und andere gewollte Unvollkommenheiten geachtet, um niemals den Verdacht des Fertigen oder gar „Schönen“ aufkommen zu lassen. Manches wirkte nun schlüssiger und einleuchtender aus der eigentlichen Handlung der Akteure heraus entwickelt. Trotz der erwartet unkonventionellen Lesart erscheint Schlingensiefs Holländer stringenter und viel näher am Werk inszensiert als sein Bayreuther Parsifal.

Zur Ouverture sah man nun, wie sich Leben durch das angestrengte Schlüpfen zweier Insekten aus ihren Larven kompromisslos Bahn bricht. Als Folge dieses neu gewonnenen Lebens bleibt die tote Materie Larve zurück. Der Tod als Kehrseite des Lebens, sieben Jahre todesartige Untätigkeit und dann ein paar Tage Leben… Der Holländer fixiert nun den Sektenführer Daland mit einer Taschenlampe und akzentuiert damit den beunruhigen Charakater seines Eindringens in die vermeintlich heile Welt der Sekte. Offenbar ist schon lange vor seinem Erscheinen das Schicksal Sentas besiegelt: Auf ihrem Rücken prangt wie ein Teufelsmal ein schwarzer Fleck… Mit dem Pagen aus George Bernhard Shaws Salome möchte man sagen: „Ich weiss, es wird Schreckliches geschehn…“. Schlingensief hebt immer wieder menschliches Leiden hervor, wie im Monolog des Holländers, der ihn als einen total gebrochenen Man zeigt, oder die Leprakranken bzw. Aussätzigen im Hinterhof der Sekte, die dem Holländer, Heilung ersehnend, ihre Arme entgegen strecken. Der Regisseur zitiert die Ästhetik der Hässlichkeit als Teil der unvollkommenen Realität menschlicher Existenz.

Im Rahmen seines weit gefächerten Assoziationstheaters sind aber auch – möglicherweise gar nicht explizit beabsichtigte – Zitate aus der Opernwelt erkennbar. So wirkt das ständige Einmischen der Sambatänzerinnen und –gruppen in das ernste Geschehen um den Holländer wie jenes der lustigen Truppe um Zerbinetta in Ariadne auf Naxos. Senta räkelt sich am Schluss ihrer Ballade lasziv wie Giulietta in Hoffmanns Erzählungen auf der chaise longue und wird vom Holländer, ihrem Hoffmann, zärtlich umschmeichelt… Die Sektenmitglieder und ihr Führer grüssen im 3. Akt den bezeichnend aus einem Wachturm heraustretenden Holländer wie einen Erlöser, ähnlich wie die Brabanter und König Heinrich ihren neuen Führer Lohengrin… Auch Wagners „Gespenster“ nimmt Schlingensief wörtlich und verwandelt den Holländer in einen Pirarucu, den grössten und mit viel Respekt bedachten, sowie von manchen Mythen umrankten Fisch des Amazonas-Beckens. Im 2. Akt schwebt Senta allegorisch als rosa Madonna auf die Szene herab; die Madonnenverehrung in Brasilien ist weithin bekannt.

Viel bedeutender als diese interessanten Assoziationen ist jedoch, dass Schlingensief und sein Dramaturg MATTHIAS PEES es schaffen, durch eine intensive Dramaturgie die Nummernhaftigkeit des Fliegenden Holländers nahezu vollständig aufzuheben. Damit nehmen sie im Prinzip das erst später von Wagner zu voller Reife geführte Konzept des Gesamtkunstwerks auf Regieebene vorweg. Der Fliegende Holländer hat bei ihnen auf einmal keine Längen mehr, die bei konventioneller Regie durchaus auftreten können. Neben der intensiv gestalteten Ballade und Eriks Traum gelingt dem Regieteam dabei besonders die ganz natürlich aus der Handlung entstehende fiktive Darstellung des Holländer-Chores durch die Komposition in Blau sw. 68 von Oskar Fischinger aus dem Jahre 1932 mit der sog. Gaspa-Technologie. Die flash-artige Abfolge von farbigen Flächen und Linien in Abstimmung mit der Musik war aufs beste geeignet, den abrupten hochdramatischen Szenenwechsel deutlich zu machen und gleichzeitig dem Zuseher und –hörer weite Fantasieräume zu öffnen. Mit diesem Konzept der Integration der „Nummern“ in den hier besonders intensiv fortlaufenden Handlungsstrang ersetzt Schlingensief in seinem Holländergewissermassen die in diesem Werk noch nicht vorhandene endlose Melodie Wagners durch die endlose Geschichte… Diese Endlosigkeit dokumentiert er auch in seinem gegenüber der Premiere abgeänderten Schluss: Zwar sehen wir auch hier den Amazonasdampfer auf dem Strom ruhig dahin ziehen. Dann aber kommen wieder die Insekten wie am Anfang, die sich jedoch nun in ihre Larven zurück verpuppen. Schlingensief gönnt dem Holländer keine Erlösung. In sieben Jahren muss er wohl wieder an Land gehen. Wer weiss, wo?

Musikalisch und auch vokal gab es gegenüber der Premiere keine wesentlichen Veränderungen. Subjektiv stellte sich nun das Gefühl ein, dass Musik und Handlung doch besser zueinander passen, als es zunächst in der Premiere schien. Vieles war ja nun schon bekannt und damit eine grössere Konzentration auf den musikalischen Teil der Aufführung möglich. Da klang unter der Leitung von LUIZ FERNANDO MALHEIRO manches auch homogener als einige Tage zuvor. Sicher ist wieder hervorzuheben, dass EIKO SENDA nicht allzu oft die Senta singen sollte und die beiden Tenöre RICARDO TUTTMANN und MARTIN MÜHLE noch erheblich an ihrer Technik arbeiten müssen, um eine bessere vokale Leistung zu erzielen, vielleicht nicht unbedingt in diesen Rollen. STEPHEN BRONK war wieder ein sehr guter Daland mit bester Technik und Phrasierung.
Am Rande der Fille du régiment in São Paulo einige Tage später war zu hören, dass man ein Gastspiel dieses neuen Holländers am dortigen Teatro Municipal erwägt. Die Qualität der Produktion von Christoph Schlingensief ist sicher nicht nur eine Reise in den Südosten Brasiliens sondern auch eine nach Europa wert…

Klaus Billand