DER FLIEGENDE HOLLÄNDER IN MANAUS – PREMIERE (DER NEUE MERKER)

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Kritik zum Fliegenden Holländer in Manaus/Brasilien beim XI. Amazonas Opernfestival am 22. April 2007

Seit 1997 gibt es im prunkvollen und sagenumwobenen TEATRO AMAZONAS am Rio Negro bei Manaus das AMAZONAS OPERNFESTIVAL (FAO). Es ist in den letzten Jahren insbesondere durch die beachtliche Leistung international bekannt geworden, die erste brasilianische Produktion von Richard Wagners Ring des Nibelungen auf die Beine gestellt zu haben – in der Regie des Briten Aidan Lang und unter der musikalischen Leitung des Künstlerischen Direktors LUIZ FERNANDO MALHEIRO. Das war 2005, und eine kühne Tat für die Verhältnisse in dieser weit abgelegenen Urwald-Metropole im Herzen Brasiliens. Davon hörte auch CHRISTOPH SCHLINGENSIEF, der sich ein Jahr zuvor in Bayreuth Wagners Parsifal angenommen und seither den Bayreuther Meister immer tiefer in sein Herz geschlossen hatte. Es folgte für das FAO die zweite kühne Tat: Nach ersten Gesprächen mit dem Goethe-Institut Rio de Janeiro am Rande der Biennale von São Paulo vereinbarten Malheiro und Schlingensief, dass er seine zweite Oper in Manaus inszenieren würde, und zwar wieder Wagner, den Fliegenden Holländer. Das 700.000-Euro-Projekt fand die organisatorische Unterstützung des Goethe-Instituts São Paulo. Es erhielt einen Zuschuss der deutschen Bundeskulturstiftung in Höhe von 200.000 Euro gegen die Zusage der Brasilianer, für den Restbetrag aufzukommen. Dieser wurde aus dem Gesamtbudget des FAO XI von gerade einmal 1.5 Millionen Euro für drei Opern (ausser dem Holländer noch Lady Macbeth von Mzensk und die Uraufführung der bras. Oper Poranduba von E. Villani-Côrtes) sowie acht Konzerte aufgebracht. Damit käme man im europäischen Kulturbetrieb nicht sehr weit. Aber in Manaus sind alle mit viel Herz und grösster Motivation bei der Sache. Da ist das Finanzielle nicht so wichtig. Über die soziokulturelle Bedeutung dieses Opern-Festivals, des einzigen namhaften unter dem Äquator, berichtete der Neue Merker schon 2002 anlässlich der Walküre-Premiere.

Schlingensiefs Holländer-Landung am Rio Negro warf weite Schatten voraus mit einem riesigen Umzug bei der Festival-Eröffnung am 20.4. Vor über 20.000 Zuschaürn um das Teatro Amazonas herum kam es mit Grosseinsätzen der lokalen Sambaschulen und des Orchesters AMAZONAS FILARMONICA zu einem musikalischen Schlagabtausch, der eher der Gemütslage des Fliegenden Holländers am Ende seines Auftrittsmonologs entsprach als dem harmonischen Anspruch an das Werk. Es ist eben das Schicksal grosser Open-Air-Veranstaltungen, dass die Technik nicht immer mitspielt. Aber zur Einstimmung auf das, was dann zwei Tage später auf der Bühne stattfand, gereichte es allemal. Christoph Schlingensief hatte in seiner bekannt offenen und absorbtiven Art die acht langen Wochen seines Aufenthalts in Manaus und dem umgebenden Dschungel mit seinen Dörfern trotz vieler Schwierigkeiten und Unbillen intensiv genutzt, Geschichte, Lebensweise, Traditionen, Mythen, Hoffnungen und Ängste der hier lebenden Menschen zu studieren. Er konnte diese Erkenntnise und Erfahrungen schlüssig in die Ästhetik seines künstlerischen Konzepts, welches bekanntlich mehr von der Aktionskunst als von den Dimensionen klassischer Opernregie bestimmt ist, einbringen. Dabei fliessen auch viele Elemente seiner Bayreuther Parsifal-Inszenierung ein, unter anderem die Drehbühne und die Projektionsflächen, die seine stilisierten Video- und Filmprojektionen sowie die Bilderfluten aufnehmen.

In einem gnaden- und nahezu ruhelos voranschreitenden Aktionsrhythmus erleben wir den Fliegenden Holländer als eine Art Satyrspiel, das auf alle kulturell und kultisch relevanten Elemente der brasilianischen Gesellschaft anspielt und dem Publikum weite Assoziationsfelder eröffnet, ohne dass Wagners Werk in irgendeiner Form instrumentalisiert wird. Man hat stets den Eindruck, dass es Schlingensief, seinem Dramaturgen MATTHIAS PEES und dem künstlerischen Berater CARL HEGEMANN um eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Oeuvre geht, aber eben auf Schlingensiefs ganz spezifische und unkonventionelle, sowie stets mit neueen Überraschungen aufwartenden Art und Weise. Hinter dieser steht auch in Manaus ein akribisches Studium des Umfelds in vielen Facetten. Das geht bis zur Beobachtung des Verhaltens von Amazonas-Fischen, die im Uferschlamm auf die nächste Flut warten müssen ebenso wie umgekehrt der Holländer auf seinen nächsten Landgang… Da sieht man Daland nicht mehr als biederen Norweger-Kapitän, sondern als Führer einer Sekte im Bischofstalar. Sie ist in Ritualen erstarrt und lebt auf der Drehbühne ihre kleine verlogen heile Welt mit Ritualmorden an Jungfrauen, bis der Holländer von aussen wie Nicole Kidman in Dogville von Lars von Trier in diese Scheinwelt eindringt und vieles durcheinander bringt. Immer liegt der Hauch des Todes über dem Geschehen, wie ja auch der Holländer und seine Mannschaft auf der Suche nach dem Tode sind. Um dahin zu gelangen, ist fast alles recht. So wird der Film Salò, oder die 120 Tage von Sodom von Pier Paolo Pasolini bemüht, um die zügellose Gier des Holländers auf junge nackte Mädchen bei der Suche nach finaler Erlösung zu unterstreichen, wobei auch schon mal ein Jüngling nicht verschmäht wird. Da wird Erik bereits mit der Schlinge um den Hals gezeigt, als er den Verlust von Senta kommen sieht, und brutal abgedrängt, als er von ihr nicht lassen will. Senta wird vom Sektenführer Daland berechnend, und um seine Sekte zu sichern, an den Mann gebracht. Und schliesslich, als ihr Tod dafür zur Bedingung wird, wie Carmen mit dem Messer erstochen. Wir sehen immer wieder ein altes Caboclo-Ehepaar, wie es auf den antiquierten Hochzeitsbildern in den Häusern der Armensiedlungen in Nordostenbrasilien und den Favelas des Landes zu sehen ist. Manchmal liegt der Mann auf einem tiefroten Katafalk, vom Holländer um seinen Tod beneidet. Dann ist er wieder lebendig wie dieser. Wenn es um die Schwüre Sentas und des Holländers im 2. Akt geht, sehen wir lächelnde Indianerinnen mit Babies im Arm. Kurz darauf – das von Daland geforderte „Freien nach Herzenslust“ wurde vom Holländer und Senta in letzter, aber gut kaschierter Konsequenz vollzogen – sehen wir die kleinwüchsige Schauspielerin KARIN WITT. Zusammen mit ihrem Kollegen KLAUS BEYER geistert sie wie schon im Bayreuther Parsifal ständig durch die Szene, diesmal mit einem Kinderwagen. Darin liegen statt Zwillingen zwei Kautschukballen, das Rohprodukt und Gold Amazoniens um die vorletzte Jahrhundertwende, als eben genau deswegen das Opernhaus hier entstand. Nicht nur hier zeigt Schlingensief seinen ausgeprägten Sinn für Humor. Irgendwie erscheinen auch die rotierenden Kautschukballen der „Spinnerinnen“ im 2. Akt so plausibel wie die „Spinnerinnen“ Konwitschnys auf den Fahrrädern in seinen Münchner, Moskauer und Grazer Fitnessstudios… Wir sehen zur Ballade herrliche Prunkkostüme des Kannevals von Rio – Mary ist hier eine Karnevalsschönheit im Federschmuck. Aber auch der regionale Karneval von Parintins im Westen des Bundesstaates Amazonas kommt vor – durch fantasievoll drapierte blaue und rote Stierköpfe. Immer wieder zeigen zwei Sambatänzerinnen ihre anmutige Kunst und Optik und begleiten den Holländer zu Sentas Heim. Ihr Hochzeitsmarsch wird am Schluss des 2. Akts mit einer ohrenbetäubenden Samba-Bateria aus Manaus im Mittelgang des Parketts instrumentiert – offenbar zur Überraschung des Dirigenten, der die Gruppe im Foyer erwartete. Das war eigentlich schon der grösste „Schock“ des Abends, an dem Schlingensief im Vergleich zu seinem Parsifal inhaltlich überraschend nah am Stück blieb. Er fand sogar zu einem romantischen Schlussbild: das Holländerschiff, ein typisch regionaler Amazonasdampfer, zieht in der Abenddämmerung über dem Fluss gemächlich in eine andere Zukunft. Endlich ist Ruhe eingekehrt, und deshalb war dieses so einfache Bild unglaublich stark. Ja, es wirkte tatsächlich wie die von Wagner postulierte Erlösung…

Die Bühnenbilder von TOBIAS BUSER und THEKLA VON MÜLHEIM wurden geschickt positioniert, auf der Drehbühne besser variiert als im Bayreuther Parsifal, und ständig in immer neue Konstellationen gebracht. Einen grossen Anteil am Erfolg des Abends hatte aber die Lichtregie des sehr talentierten brasilianischen Beleuchters und Regisseurs CAETANO VILELA. Schlingensief hatte ihm völlig freie Hand gelassen und ihn sogar zu spontaner Lichtregie aufgefordert. Das führte zu einer verblüffend situationsgerechten Beleuchtung von oftmals grosser Tiefenwirkung, immer wieder die Bilder psychologisch aufladend. Einen besonderen Höhepunkt stellte in dieser Hinscht der Chor der Holländer dar, der gar nicht sichtbar war, sondern durch eine ausdrucksstarke und fantasievolle Lichtkaskade interpretiert wurde, während die Stimmen drohend aus dem Off kamen. Die Kostume von AINO LABERENZ waren in ihrer Fantasie geschmackssicher und genau auf das Geschehen abgestimmt. Die Videoaufblendungen von KATHRIN KROTTENTHALER auf einen Gazeschleier vor der Bühne schufen immer wieder mystische Momente und relativierten das dahinter ablaufende Geschehen. Es wurde mit verdeckten Punktstrahlern beleuchtet, als handle es sich um Szenen aus Rembrandt-Gemälden. Auch die Filme, die Schlingensief während seiner Zeit in Amazonas bei vielen Gelegenheiten drehte, erschienen auf diesem Schleier und anderen mobilen Projektionsflächen. Sie erzielten durch die oft flash-artige Schnelligkeit ihrer Abfolge aber nicht immer die maximale Wirkung. Das zu häufige Ein- und Ausfahren des Schleiers erwies sich zudem als störend. Allerdings setzte der Regiesseur ganz bewusst auf den sichtbaren Umbau hinter dem Schleier, um die Lebendigkeit und fortlaufende Entwicklung auf der Bühne als integralen Teil des dramaturgischen Konzepts miterleben zu lassen. Die ständige Bilderflut – da blieb sich Schlingensief seinem Parsifal allerdings treu – war dem Verfolgen des Geschehens und erst recht der Musik nicht gerade förderlich. Hier scheint der Spruch, dass weniger mehr sein kann, durchaus angebracht.

Angesichts einer solchen Dominanz des optischen-theatralischen Moments trat die musikalische Seite in den Hintergrund. Luiz Fernando Malheiro begann sehr dynamisch mit schnellen Tempi in der Ouverture und hatte auch den ganzen Abend über, der wegen der umfangreichen Bühnenumbauten mit ungewöhnlichen zwei Pausen stattfand, bestens im Griff. Das Orchester bot die erforderliche Klangfülle, spielte aber nicht immer ganz so flüssig, wie man es sich nicht nur beim Fliegenden Holländer wünscht. Die Blechbläser klangen bisweilen etwas spröde. Dafür waren aber die Streicher bestens in Form und haben über die Jahre nun zu einer guten Wagner-Qualität gefunden. Wie immer erwies sich Malheiro als Meister in der Führung der Sänger, die es angesichts ihrer ständigen Bewegung und jener der Bühne wahrlich nicht leicht hatten.

STEPHEN BRONK als Sektenführer Daland war unter ihnen der beste. Als Stammbassist des FAO – er war hier auch Hagen, Hunding und Fasolt – sang er den „Norweger“ mit einem deutlich dunkler gewordenen Bass (er raucht nicht mehr…), weichem Timbre und bester Phrasierung. Bronk ist zudem ein inelligenter Sängerdarsteller und kann sich offenbar auch auf ungewöhnlichste Rollenprofile bestens einstellen. Die Mary von ELAINE MARTORANO fiel durch einen schön timbrierten Mezzo auf, der zu weiteren Aufgaben beim FAO und anderswo einlädt. Hinzu kommt eine ungewöhnlich artikulierte Gestaltung der häufig vernachlässigten Mary, ein Indiz natürlich auch für die gute Personenführung Schlingensiefs. Der Amerikaner GARY SIMPSON gab den Fliegenden Holländer mit einem durchaus schönen baritonalen Timbre, hatte aber oft mit Intonationsproblemen zu tun und klang etwas eindimensional. Die Nippobrasilianerin EIKO SENDA, die hier eine sehr gute und verinnerlichte Sieglinde sowie die Gutrune sang, versuchte sich an der Senta, deren Tessitura für ihre Lage jedoch zu hoch liegt. Während es im 2. Akt noch gut ging, so war im 3. das vorzeitge Ermüden der so schönen Stimme angesichts der dramatischen Höhen der Partie nicht zu verhehlen. Darstellerich war auch sie hervorragend. Der Erik von RICARDO TUTTMANN hatte ernste Probleme mit der Intonation und neigte zum Tremolieren, wie auch sein Spiel etwas stereotyp blieb. Auch der Steuermann von MARTIN MÜHLE konnte nur streckenweise überzeugen, zu unsauber war seine Stimmführung, bei allerdings gutem tenoralem Material. Der von MARIA ANTONIA JIMÉNEZ einstudierte AMAZONAS-CHOR war sowohl bei den als Nonnen chiffrierten Damen wie bei den – Gott sei Dank – niemals albernden Matrosen in guter Form, von kleineren Unebenheiten abgesehen. Die gute Choreografie lag in den sicheren Händen von ADRIANA ALMEIDA.

Das Publikum in Manaus war offenbar von der Unkonventionalität der Schlingensiefschen Interpretation weniger überrascht als in Europa. Da kommt wohl aber auch die „Gnade“ der hier noch gering ausgeprägten Werkkenntnis zum Tragen. Es applaudierte jedenfalls begeistert allen Mitwirkenden, und auch für Christoph Schlingensief gab es nur wenige Buhs. Für ihn ein recht ungwöhnliches Ergebnis. Aber der Traum seines Lebens, Wagner am Amazonas zu inszenieren, war in Erfüllung gegangen. Es wäre schade, wenn diese Produktion nach nur zwei Aufführungen im Depot von Manaus verschwindet, wo auch schon der ganze Ring im Tropendunst vor sich hinschlummert. Die Wiener Festwochen sollten sich einmal überlegen, ob sie diese sehenswerte Inszenierung nicht übernehmen wollen. Ein volles Haus wäre ihnen gewiss!

Klaus Billand