18 BILDER PRO SEKUNDE (PRESSEMELDUNG)

Veröffentlicht am Autor admin

Der Film-, Theaterregisseur und Künstler Christoph Schlingensief zeigt im Haus der Kunst seine Installation „18 Bilder pro Sekunde“, die eigens für die ehemalige Ehrenhalle entsteht.

„Immer wieder kommt es vor, dass man mich mit dem Theaterregisseur verwechselt. Ich komme aber vom Film, nicht vom Theater. Und ich erinnere mich gern an die Zeit, als ausschließlich auf Super-8/16 mm oder 35 mm gedreht wurde. An die Zerstörung des Negativs. An die Übermalung der Erinnerung. An die Möglichkeit, das Material Jahre später zu sehen, wenn es wie eine abgenutzte Netzhaut zerkratzt, abgelöst oder wie von Blitzen beschossen aussah. Alles was das Auge macht, macht auch das Filmmaterial. Und da ich gerade in Manaus eine weitere Oper von Richard Wagner dem Volk übergebe, werde ich im Haus der Kunst auf meine zerstörte Vergangenheit hinweisen.

Aufbau der Installation im Haus der Kunst München

18 Loops, Filmloops … zerstörbar, knatternd, riechend … kein digitales Nichts.
Aber ein Bekenntnis zum verlorenen roten Faden.
Die Prozession der Blinden.
Die Auferstehung der Toten.
Die Erkenntnis, dass kein Toter böse sein wird.
Die Freude, dass Gott nicht sterben kann.
Wir aber schon. Das macht uns zum Film. 18 Hoffnungsbilder und 18 mal der Tod.“
(Schlingensief)

Seit zwei Jahren setzt sich Christoph Schlingensief wieder stärker mit dem Medium Film auseinander; in seiner Arbeit für das Haus der Kunst spiegelt sich das deutlich wider. Zwei filmische Werkkomplexe stehen im Zentrum: African Twin Towers sowie Kurzfilme, die derzeit während der Regiearbeit für den Fliegenden Holländer am Teatro Amazonas in Manaus, Brasilien entstehen.

Christoph Schlingensief zeigt die ungeschnittene Version seines Films African Twin Towers. Darin geht es um Richard Wagner, den Anschlag vom 11. September, Hagen von Tronje, Odin und Edda, lebende Hereros (Angehörige eines afrikanischen Hirtenvolks) und tote, Geister der Gegenwart und der Vergangenheit. „Drehort“ ist eine „sich drehende Scheibe“, von Schlingensief „Animatograph“ genannt, auf der ein Schiff mit zwei Masten steht. An diesen Masten hängen die Twin Towers. Das alles stand in Lüderitz in Namibia, der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Inszeniert wird deutsche Gegenwart. Jeden Tag wird der Film von Neuem begonnen, unter ständiger Beobachtung diverser Kameras. Schlingensief ist diesmal alles: Regisseur, Schauspieler und einer von vier Kameraleuten. Er verbindet die nordische, europäische Sagenwelt mit afrikanischem
Schamanentum und der Gegenwart, die Musik von Patti Smith mit Texten von Elfriede Jelinek und dem Spiel der Fassbinder-Schauspielerin Irm Hermann. Gleichzeitig entwirft er ein Porträt der Alltäglichkeit, in dem u.a. auch „Helden“ der Politik auftreten. Er ist, metaphorisch ausgedrückt, ständig auf der Suche nach Auf- und Entladungen, nach Hell-
Dunkel-Kontrasten.

In Manaus dreht Schlingensief in Zusammenhang mit seiner Arbeit am Fliegenden Holländer zahlreiche Kurzfilme. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der Erlösungsgedanke. Dieses Thema hat Richard Wagner fortwährend beschäftigt, und noch in seiner letzten Oper, Parsifal (1882), die Schlingensief 2004 für die Bayreuther Festspiele inszeniert hat, suchte er es zu bewältigen. Nach Schlingensief sucht der Fliegende Holländer ein Bild, das ihn erlöst, und findet es nicht. Auch Senta als ihn liebende Frau hat ein Bild, das sie eingelöst haben will, und wird damit nicht glücklich.

Die Filme bettet Schlingensief in eine Installation ein, die von einer überdimensionalen Abendmahlszene mit Mohammed beherrscht wird. Als Vorlage diente ein Karnevalswagen aus Manaus. Unter dieser Abendmahlszene lagern verschiedene Kabinen, in denen im 16 mm-Format die Filme rattern. Trotz des gemeinsamen Ratterns der Projektoren und der Ästhetik der verwendeten 16 mm-Bolex-Kamera hat jeder Raum sein eigenes Thema und bildet einen eigenen Planeten. In einem abgeteilten Raum wird auf 18 Monitoren das vollständige Material des Films African Twin Towers gezeigt, insgesamt 18 Stunden.

Eindruck vom Aufbau der Installation im Haus der Kunst

„Kein Filmschnitt wird schaffen, was man mit einer Bolex machen kann.
Die Bolex können auch Blinde bedienen.
Sie schießt … und nach 30 Sekunden ist das Material zu Ende.
Dann muss man nachladen.
Und auch wenn man blind ist, kann man damit schießen.
Bild für Bild … Einzelbild … wie ein Revolver.
Und es wird weniger kryptisch sein als unser Stammbaum.“
(Schlingensief)

Mit Umlaufblende, handgemachter Auf- und Abblende, zum Teil selbst entwickeltem Material, Hinwendung zum Korn des Schwarz-weiß-Materials und kurzen Loops erreicht Schlingensief eine Beschleunigung, die mitreißt. Und doch gibt es durch den Blick der Kamera ein Zentrum, das einen am Boden hält. Schlingensiefs Radikalität liegt in der subjektiven Auswahl und dem hierarchiefreien Nebeneinander von Bildern, Themen und Personen. Er glaubt an die sinnliche Macht der Bilder und an die Fähigkeit des Betrachters, sich vom Verlangen nach Linearität zu befreien.

Nach seinen übergreifenden Installationen u.a. in Neuhardenberg (Animatograph II) und dem Burgtheater Wien (Area 7), in denen er die Grenzen des Theaters in Richtung Installation überschritt, hat Schlingensief nun seine erste größere Einzelpräsentation in einer Kunstinstitution.

„Nicht Schärfe ist sein Thema, sondern Unschärfe. Das möchte ich unterstützen, denn Dinge, die klar sind, inspirieren nicht. Die Welt in ihrer Ganzheit ist eben nicht zu begreifen.“ (Stephanie Rosenthal)

Christoph Schlingensiefs Installation im Haus der Kunst wird von der Kulturstiftung des Bundes gefördert.
In Zusammenarbeit mit XI Festival Amazonas de Ópera und Goethe-Institut São Paulo