SCHLINGENSIEF ZEIGT „18 BILDER PRO SEKUNDE“ (DIE WELT)

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Der erste Eindruck: ein erstaunlich aufgeräumter. Betritt man die große Ehren- und Eingangshalle im Münchner Haus der Kunst, ist man zunächst erstaunt, wie geschickt Chris Derkon und sein Team diesen mit Blutmarmor verkleideten Unort bespielen. Ob Paul McCarthys nicht jugendfreies Westernfort oder Konstantin Grcics kühle Industriedesign samt Pappdummies in allen Entwicklungsstufen, der unmenschlich große Raum taugt durchaus als schützende Hülle für überdimensionierte Installation. Diesmal beherbergt er Christoph Schlingensief und seine Arbeit „18 Bilder pro Sekunde“.

Von Manuel Brug

Hinter einem rohen Holzzaun zeigen sich riesig cremefarbene Apostelköpfe aus Pappmaschee als erste Ankündigung eines brasilianischen Karnevalswagen, den Schlingensief per Schiff aus Manaus hat herbeischaffen lassen. Seine Installation ist eine Reflexion auf seine Auseinadersetzung mit Wagners „Fliegendem Holländer“ mitten im finsteren Herzen des Amazonas-Dschungel. Sah es in seinen letzten bildkünstlerischen Arbeiten wie „Hodenpark“, „Ragnarök“ oder dem Animatographen mit ihren verschmierten Turbinen, Heuhaufen in dunklen Kabuffs, Mozart-Pornos und Nazibildern eher aus wie in einer Jonathan-Messe-Assamblage, in die der Blitz eingeschlagen hatte, so ist diesmal alles wohlgeordnet.

Schlingensief, der Krankheit und Tod in der eigenen Familie zu verarbeiten hatte, erinnert sich an seine Jugendtage im Oberhausener Schmalfilmclub und verknüpft das Haptische der in diversen Projektoren als kunstvoll aufgefädelte Endlosschleifen ratternden Filme mit dem Urwaldtrip hin zu den Wagner-Müttern. Hat man einige Kisten passiert – manche sind geschlossen, in anderen warten Familienbilder und Filmschachteln -, tun sich im Unterbau der Abendmahlszene Kabinen auf, wo man sieht und hört, was die Benutzung aus dem Zelluloid macht: verkratzte, springende, durchlaufende Bilder. Oder einfach gerissene Spulen, wo alles stillsteht.

Sambatänzerinnen und alte Frauen huschen über die Wände, ein Amazonasschiff ist auf großer Fahrt, Vorbereitungen für die Erkundung einer verlassenen Leprastation sind zu sehen. Schlingensief hielt immer drauf, kurbelte von Hand mit seiner uralten 16-Milimeter Bolex-Kamera in altmodischstem Schwarzweiß. 18 Bilder dreht die pro Sekunde, 18 Kojen mit kurzen, schlaglichtartigen Filmen durchschreitet man, bis am Ende, von einer Videowand mit 18 Monitoren Schlingensiefs jüngstes Filmprojekt „African Twin Towers“ über den Betrachter hinwegflutet: mit Zwergen und Verrückten, Robben und Perückenträgern, das übliche Schlingensief-Universum, in dem alles und nichts bedeutungsverwurstelt wird.

Oben auf dem Wagen, wo Jesus mit sieben Jüngern und dem Propheten Mohamed freundlich papppräsidiert, gibt es erstmals Ton. An einem Fernseher hängen Kopfhörer – die Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ wird mit dem Mut der Verzweiflung in Priestergewändern vom Orchester des Teatro Amazonas zwischen Lianen und Schlingpflanzen gespielt. 18 soll angeblich auch eine Geheimzahl unter Neonazis sein. Und das in Hitlers ehemaligem Kunsttempel? Ein sehr ruhiger Schlingensief bindet hier sein brasilianisches Abenteuer in seinen Lebenswerkkosmos aus Kunst und Kitsch, Religion und Revolte ein. Anfang August wird er auch in Bayreuth mit der vierten und finalen „Parsifal“-Variation sich ein Stückchen weiterdrehen, bevor Anfang September an der Oper Bonn „Freax“ auf Musik von Moritz Eggert startet.

Die Welt vom 23. Juli 2007