Regisseur Christoph Schlingensief meldet sich nach einer längeren krankheitsbedingten Pause zurück und stellt bei der RuhrTriennale in Duisburg ein „Fluxus-Oratorium“ vor. Mit Wilfried Mommert spricht das ehemalige Enfant Terrible erstmals öffentlich über seine erfolgreich behandelte Krebserkrankung, seine Angst vor der Welt, sein Bedürfnis nach Liebe sowie über Bayreuth und den Tod.
Frage: Sie bauen in Duisburg die Kirche Ihrer Kindheit in Oberhausen nach. „Kirche der Angst“ war auch schon ein früheres Projekt von Ihnen. Ist das jetzt die Fortsetzung?
Christoph Schlingensief: Es ist mir ein altvertrautes Gelände, wo ich auch schon 1990 „Das deutsche Kettensägenmassaker“ gedreht habe. Aber ich präsentiere nicht meine Memoiren auf der Bühne, sondern kehre mit dieser Arbeit an den Altar zurück, an dem ich als sechsjähriger Messdiener gescheitert bin. Es ist also die Rekonstruktion der ersten Angst, wenn man so will. Und ich will auch wissen, ob ich mit meiner Krebserkrankung noch mal gescheitert bin oder Scheitern, wie ich früher gerne gesagt habe, eben auch eine Chance bedeutet. Zum Beispiel für einen Neuanfang. Ich fange sozusagen das Spiel noch einmal an.
Frage: Haben Sie heute andere Ängste als früher und ist die „Kirche der Angst“ heute eine andere für Sie?
Schlingensief: Die „Kirche der Angst“ entstand zur Zeit der New Yorker Terroranschläge vom 11. September 2001, wo jeder jeden verdächtigt hat. Hier auf der RuhrTriennale geht es um viel individuellere Fragen. Eine ganz persönliche Angstkirche. Ich lebe wie alle Menschen in meiner eigenen Angst, die niemand nachempfinden kann und ich habe eine große Angst vor der Welt, die ich aber gleichzeitig auch liebe. Mir geht es wieder gut, ich kann wieder arbeiten, ich habe Spaß am Leben und der Arbeit, auch wenn ich manchmal noch Ängste habe, kalte Füße sozusagen.
Frage: Ihr Leben hat sich aber stark verändert, Ihre Einstellung zum Leben auch?
Schlingensief: Natürlich, ich musste ja erst einmal lernen, mit so einer Krankheit umzugehen. Ich war ja praktisch mit meiner Arbeit bis dahin quasi in einem Hochgeschwindigkeitsrausch und wurde plötzlich angehalten, mit einem Fleck auf einem Röntgenbild. Man kann es erst einmal nicht fassen und denkt an Tuberkulose oder Lungenentzündung oder eine Pilzinfektion aus dem brasilianischen Urwald, wo ich im vergangenen Jahr auch gearbeitet habe. Da knallt es plötzlich im Leben und alle Sicherungsmaßnahmen sind erst mal außer Kraft gesetzt. Und dann die Diagnose, Lungenkrebs, es ist kein Raucherkrebs, ich gelte als Nichtraucher und auch in der Familie kein Lungenkrebs. Es nennt sich Adenokarzinom. Basta. Das ist alles. Weitere Daten des unwillkommenen Schmarotzers gab es nicht.
Frage: Wie hat der Katholik Schlingensief das verarbeitet?
Schlingensief: Man sucht als Christ und erst recht als Katholik die Schuld doch zuerst bei sich selbst, Krankheit als Bestrafung. Natürlich habe ich in meinem bisherigen Leben extrem um Anerkennung gekämpft. Mir war wahnsinnig wichtig, dass ich geliebt werde, auch von meinen Eltern, dass sie sehen, aus ihrem Jungen ist doch was geworden. Der große Junge ist sich aber innerlich noch immer fremd. Ich konnte nie im Leben sagen, ob ich ein guter oder ein böser Mensch bin, das weiß ich immer noch nicht, das ist mir auch durch die Krankheit nicht klarer geworden.
Frage: Da kann auch die Kirche nicht helfen?
Schlingensief: Ich bin als Christ erzogen worden, aber Gott und auch Jesus waren mir immer wieder fremd, und die Kirche viel zu seicht, viel zu weinerlich, ein Riesenproblem. Aber wenn ich das große Leid auf der ganzen Welt und in vielen persönlichen Tragödien auf den Stationen oder Chemo- und Strahlen-Wartezimmern sehe, dann geht mir das jetzt noch stärker unter die Haut, so stark, dass ich dadurch meine zunächst lebensbedrohende Erkrankung relativieren konnte. Es gibt immer Schlimmeres, aber was ich erlebt habe, kam mir wie eine Art Vorhölle vor, und ich hoffe, dass mir das im Fegefeuer angerechnet wird, auch wenn der Papst da anderen Unfug verbreitet.
Frage: Kann die Kunst eine Rettung sein wie die Religion?
Schlingensief: Vielleicht ist Gott doch ein gescheiterter Künstler. Wenn ich jetzt etwas länger hinschaue, Gefühle nicht mehr nur oberflächlich abperlen lasse, dann frage ich mich, ob ein Schöpfer wie Gott als Künstler versagt hat. Sein Werk ist unvollkommen, es gammelt vor sich hin. Gott hat aufgegeben. Er will nicht mehr korrigieren. Die Kunst aber akzeptiert das Scheitern, und genau da hilft sie Gott.
Frage: Welche Rolle hat dann Richard Wagners christlich-mythisches Weltabschiedswerk „Parsifal“, das Sie in Bayreuth inszeniert haben, in Ihrem Leben gespielt?
Schlingensief: Ich bin damit in eine gewisse Todesnähe gerutscht, die mich stark angegriffen hat! Die andauernde Beschäftigung über Jahre mit dieser Todesnähe im Parsifal-Stoff, das wurde fast zu viel. Wenn man permanent auf eine Stelle haut, dann wird sie wund und bricht irgendwann mal auf. Ich habe mir in den Jahren in Bayreuth, als der Krebs schon zu wachsen begann, ein paar Dinge erlaubt, die nicht zu meinem Naturell gehören. Dagegen lehnt sich auch der Körper auf. Man fährt wahrscheinlich sehr oft nach Bayreuth nicht um zu leben, sondern um zu sterben. Es gibt ja Dirigenten, die keinen „Tristan“ dirigieren wollen, weil sie meinen, dass sie danach sterben würden. Ich würde diese Oper gerne inszenieren. Und nicht um zu sterben, sondern um der Liebe ein Denkmal zu setzen! Und um zu sehen wie weit man in der Kunst bei lebendigem Leibe kommen kann.
Das „Fluxus-Oratorium“ mit dem Titel „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ hat bei der RuhrTriennale in Duisburg am 21. September Premiere.
dpa, 5.9.2008