Christoph Schlingensief über seinen Kampf mit dem Lungenkrebs, mit Gott und mit sich selbst
Anfang des Jahres wurde gemeldet, dass der 47-jährige Christoph Schlingensief schwer an der Lunge erkrankt sei. Der Aktionskünstler verhängte noch schnell eine Nachrichtensperre und begab sich auf ein monatelanges Martyrium. Seit drei Wochen arbeitet er wieder, und zwar mit großer Freude, wie er sagt, bei der Ruhrtriennale, wo er mit einem „Fluxus-Oratorium“ die „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ gründet. Auch dass Schlingensief wieder Interviews gibt, ist als Zeichen der Genesung zu verstehen.
Herr Schlingensief, wie gut, dass es Ihnen wieder besser geht! Wenn überhaupt, hat man bis vor Kurzem nur Hoffnungsloses über Ihre Krankheit gehört. Bitte erzählen Sie, wie ist es Ihnen ergangen?
Es ging im Januar los. Ich kam gerade aus Nepal zurück, wo wir für die Heilige Johanna ein paar Sachen gedreht haben. Da gab es schon viele Bilder, die dann erst im Nachhinein Bedeutung bekamen: Der Künstler, der sich fragt, was er da gerade macht, ob er überhaupt noch etwas machen soll, berührt es ihn überhaupt noch, oder ist es vielleicht doch schon eine Masche geworden? Als wir am 3. Januar zurückkamen, wollte ich endlich die Erkältung nachsehen lassen, die ich schon aus Brasilien mitgebracht hatte und die mich zunehmend nervte.
Es war aber keine Erkältung.
Ich bin in Oberhausen zum Arzt. Der sagt: „Röntgen“, und mittags hatte ich dann dieses Foto von meiner Lunge in der Hand, mit diesem Fleck. Das war der erste Schock, aber es gab noch einige Notausgänge: vielleicht ein Pilz? TBC? Eine Vernarbung? Ich wurde eine Woche lang mit Anti-Pilz-Mitteln behandelt, aber der Fleck wurde nicht kleiner. Dabei habe ich alles durchgespielt, was wäre wenn … Mein Vater ist ja im letzten Jahr gestorben. Gibt es da noch Kontakt, habe ich mich gefragt, kann der da eingreifen oder nicht?
Wie eingreifen?
Ich bin Katholik und glaube an ein Leben nach dem Tod. Ich dachte an diese familiäre Verbindung, den Vater, ob der da zuschaut und denkt: „Oh Gott, mein Sohn.“ Aber wie bekommt man Kontakt? Ich fühlte mich verlassen und klammerte mich an die einfachsten Fragen: Wer war ich, und was werde ich sein? Wie soll mein Vater helfen, wenn schon Gott seinem Sohn die Hilfe versagt hat? Mein Vater war nur Apotheker.
Wann haben Sie erfahren, dass Sie Lungenkrebs haben?
Ende Januar. In Berlin haben sie punktiert, und dann war nach vier Tagen klar, dass es ein Adenokarzinom war. Sozusagen ein Nichtraucherkrebs.
Wurden Sie gleich operiert?
Eigentlich wollte ich abhauen. Ab nach Afrika. Ein lange geplantes Projekt realisieren und dabei sterben. Bloß nicht mit fünf Schläuchen am Hintern zwischen Weißkitteln liegen, um 30 Minuten Lebensverlängerung flehen und nicht mehr aus der Maschine rauskommen. Dann ging es doch zur OP, bei der man mir einen Lungenflügel entnahm. Meine linke Seite ist leer. Es geht auch so. Als ich aus der Narkose aufwachte, staunte ich, dass ich atmen und reden konnte.
Wie ging die Behandlung weiter?
Nach der Wundheilung ging die Chemotherapie los. Das hat meine Seele als Zentralangriff verstanden. Alle Zellen haben geschrien. Das Kotzen oder die anderen Nebenwirkungen waren mir egal, aber wie soll man mit der Vorstellung klarkommen, dass jetzt der Zellbildungsmechanismus, also die gesamte Lebensformel auf den Kopf gestellt wird. Und zwar mit einem abgewandelten Senfgasprodukt aus dem Ersten Weltkrieg und dem Nebenwirkungshinweis: „Kann Krebs erzeugen!“ Das hat meine Seele nicht verstanden. Und ich auch nicht. Schließlich: Strahlentherapie, bei der mich eine freundliche Krankenschwester darauf hinwies, dass ich mein Handy weglegen soll, weil sonst die Elektronik vernichtet würde. Ich sah mich schon verdampfen.
Sind Sie jetzt geheilt?
Quatsch. Nur so viel: Ich habe noch Glück gehabt. Mit Skalpell, Chemo, Bestrahlung und allen zur Verfügung stehenden Mitteln wurde die Drecksau rausgeputzt, weggeputzt. Aber wie bei jedem Menschen kann das Immunsystem jederzeit kurz versagen, und dann geht das wieder los.
Gab es eine Zeit, in der Sie gedacht haben, Sie müssten sterben?
Ja, die gab es. Nach der Operation bei der Chemo hatte ich eine Embolie. Das ist besonders bedrohlich, wenn man nur eine Lunge hat. Ich konnte mich kaum noch bewegen, weil der Atem sofort stockte. In dieser Intensivstationszeit habe ich vielleicht zum ersten Mal verstanden, wie sehr ich am Leben hänge.
Sahen Sie die Krankheit als Strafe?
Ich empfand die Krankheit eher als Beleidigung, als Aufforderung, sich nicht zu mögen. Heute denke ich ganz anders. Für mich ist dieser Knall sogar ein Weg, mich mehr zu mögen. Die Selbstliebe ist entscheidend, wenn man so einen Einbruch in das eigene Sicherheitssystem erlebt. Es wäre schön, wenn man für diese Erkenntnis keine Katastrophen benötigte. Ich weiß nicht, wozu Krebs gut sein soll. Wozu kommen Kinder mit Krebs zur Welt? Verstehe ich nicht, ich kann dem nicht folgen. Und das quält mich, da sehe ich auch keinen Grund, mich aufs Jenseits zu freuen. Wir können doch nicht zulassen, dass wir hier auf Erden blöder sein sollen als die, die bereits in die Geheimgesellschaft der Entschlafenen aufgenommen wurden. Ich will zu Lebzeiten zu Gott gelangen. Aber da war nichts zu machen. Man sitzt da mit verdammt kalten Füßen herum, und die Geister kommen angeflogen. Sobald es dunkel wurde, hab ich gedacht, ich dreh durch.
Waren Sie in diesen Momenten noch Künstler?
Keine Ahnung. Ich war damals, wie jetzt auch, Teil der Schöpfung, der hoffte, selber auch noch mal schöpfen zu dürfen. Abends, wenn die Angst kam, habe ich auf mein Diktiergerät gesprochen. Mit dem Material versuche ich jetzt einen eigenen Gottesdienst zu feiern, eine Kirche zu errichten, die extrem privat ist, die „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“.
Ist es nicht paradox, eine individuelle Kirche zu gründen? Sollte das nicht eine Einrichtung sein, in der das Individuum in der Gemeinschaft aufgehen kann?
Wäre schön. Aber dafür ist mir die Kirche zu spröde und starr. Die Methoden sind eingeübt und abgebrüht. Meine Kirche dagegen ist persönlich, sie will nicht in Rituale flüchten, sie will Gott in sich entdecken. Sie will die Autonomie fördern, um auch in größter Not zu sich stehen zu können und nicht immer zu müssen! Diese Durchhalteparolen in Psalmen oder Politikerreden habe ich satt.
Sie scheinen wieder der Alte zu sein. Haben Sie sich verändert?
Bei der Messe, die ich hier bei der Ruhr-Triennale feiere, geht es vielleicht auch um eine Beerdigung, vielleicht werde ich da beerdigt, vielleicht das Kind in mir. Dieses Bild spielt eine große Rolle. Ich habe das Gefühl, dass ein Großteil meiner Unschuld weg ist. Ich bin nicht weiser geworden. Aber ich bin aufgerissener. Ich habe mehr Schreie gehört, als mir lieb waren, und merkwürdigerweise habe ich jetzt mehr Glücksgefühle als zuvor. Ich suche das Normale und Unschuldige, das noch nicht Verbogene und mit Schutzpanzern ausgestattete Wesen. Danach sehne ich mich. Mit meiner Freundin an der Ruhr langzugehen, das ist ein großer, wahrer Moment. So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein.
Das Gespräch führte Ulrich Seidler.
11.9.2008