REQUIEM FÜR SANKT SCHLINGENSIEF (SPIEGEL)

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Der an Krebs erkrankte Regisseur Christoph Schlingensief inszeniert in Duisburg eine schrille, herzergreifende und zum Glück voreilige Totenmesse in eigener Sache – mit Kinderchor, Schmalfilmbildern und einer Nachhilfelektion in Kunstgeschichte.

Nach einer Stunde tritt der arme Sünder endlich selber an den Altar, und es kehrt plötzlich Stille ein in der „Kirche der Angst“: Christoph Schlingensief lässt die Wagner-Musik schweigen, lässt keine schwarzen Sängerinnen durch den Mittelgang rasen und keine Prozessionsbilder über die im Raum verteilten Leinwandflächen zuckeln. Der Künstler tritt zum ersten und einzigen Mal leibhaftig auf an diesem Abend.

Er greift einen Kelch und tut so, als nehme er die Verwandlung von Wein in das Blut Christi vor, wie es die katholische Liturgie vorschreibt. Dann hebt er den Kelch in den Kreis seiner Gefährten, die er allerdings nicht „Jünger“ nennt, sondern „Freunde“. Sogleich tritt einer dieser Freunde vor und sagt feierlich ins Mikrofon: „Lesung aus dem fünften Evangelium des Joseph Beuys.“

So kunstfromm und brav blasphemisch geht es zu am Sonntagabend in der „Gebläsehalle“, einem Industriedenkmal im Landschaftspark Duisburg-Nord, wo das Festival Ruhrtriennale Christoph Schlingensiefs Spektakel „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ präsentiert. Ganz wie in einer echten Kirche leuchten (aufgepappte) bunte Glasfenster in gotischen Fensterbögen, flackern Kerzen, drängen sich die Menschen auf harten Holzbänken. Nur gekniet und Weihrauch geschwenkt wird hier nicht.

Mit Filmbildern, die den Regisseur und Darstellungskünstler Christoph Schlingensief auf einem Bett liegend zeigen, fängt es an. Er schluchzt „Bitte nicht berühren“. Zwei Opernsängerinnen jauchzen, die Mädchen und Jungs eines Kinderchors lassen rote Halstücher über weißen Hemden flattern und singen „Alle meine Entchen“. Man sieht verwackelte Schmalfilmaufnahmen, in denen der fünfjährige Christoph im Jahr 1965 einen von einer Kugel getroffenen sterbenden Cowboy spielt.

Und zwischen diesen Attraktionen lesen die berühmten Schauspielerinnen Angela Winkler und Margit Carstensen Texte, die dieser Christoph Schlingensief während der letzten Monate schrieb, als er wegen seiner Krebskrankheit meist im Krankenhaus war: „In 47 Jahren hab ich wirklich viel gemacht“, heißt es da zum Beispiel. Nicht bloß viel Glück habe er erfahren, sondern auch „viel Scheiße gebaut“.

Der Kranke ins Unbekannte

Und das soll jetzt vorbei sein? Im Januar 2008 erfuhr Schlingensief, dass er an einer besonders aggressiven Art von Lungenkrebs erkrankt ist; von den Ärzten wurde ihm der linke Lungenflügel entfernt, seither hat er Bestrahlung und Chemotherapie über sich ergehen lassen. Eine Operninszenierung in Berlin, die er schon ausgetüftelt hatte, brachten einige Schlingensief-Helfer, mit denen er per SMS vom Krankenhaus aus kommunizierte, im April noch zu Ende.

Seine Duisburger „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ ist Schlingensiefs erste Arbeit nach der Krankheit. Man kann auch sagen: Sankt Christophs Auferstehung. Er selber spricht lieber vom „Requiem für einen Untoten“. Deren Motto lautet: „Wir gedenken des zukünftig Verstorbenen.“

Als Leidender, als heiliger Narr, der die Übel der Welt persönlich nimmt, dabei aber (anders als echte Märtyrer) jede Stellvertreterrolle ablehnt, gilt Schlingensief schon lange. Für Filmprojekte wie das frühe Pubertätswerk „Rex, der Mörder von London“ und den späten Klassiker „Das deutsche Kettensägenmassaker“ ließ er üppig (und notfalls auch eigenes) Blut fließen.

Für Theaterabende wie „Rocky Dutschke“ in der Berliner Volksbühne sprang er mit roten Pusteln und eitrigen Blasen auf der nackten Brust durchs Publikum, weil er gerade an einer Allergie laborierte und weil er ein paar Zuschauer erschrecken wollte. Der Gedanke, dass seine Kunst eine einzige üble Krankheit sei, ist keine üble Verleumdung seiner Verächter, sondern eine alte Grundüberzeugung des Entertainers und Selbstinszenierungskünstlers Christoph Schlingensief.

Flugs noch Fluxus

Das Chirurgenhandwerk, der Verfall toter Körper waren schon früh seine Themen: In der Volksbühne zeigte er, wie sich Seziermesser bei der Beschneidung von Männern ins Fleisch senken, in Bayreuth, wo er 2004 den „Parsifal“ aufführte, schwelgte er endlos in Filmbildern von verrottenden Hasenkadavern.

Diese Hasenbilder, eine Huldigung an Joseph Beuys, sind nun auch in der Duisburger Totenmesse wieder zu bestaunen, Zitate von Beuys und Heiner Müller zieren das Programm; und eine Nachhilfestunde in Sachen Kunstgeschichte gibt es auch: Was es mit dem Begriff Fluxus und Künstlern wie Nam June Paik in den Sechzigern auf sich hatte, erklärt eine Lehrfilm-Einspielung. Kern der Sache: Den Fluxuskünstlern galt das Leben selber als Kunstwerk, in seiner ganzen, munter fließenden (daher der Name) und dahinsprudelnden Totalität.

Schlingensief hat ein paar Banner mit der Aufschrift „Flux“ in seinen Kirchenraum gehängt und nennt die Duisburger Aufführung ein „Fluxus-Oratorium“. Dieser Überbau lässt sich sehen, mag er jetzt auch nicht allzu erhellend sein. Er stört auch nicht weiter. Für die Kunst, aus der eigenen Krankheit, aus seinem Zorn, aus seiner Hilflosigkeit einen ergreifenden Theaterabend zu machen, bräuchte Schlingensief aber kein Fluxus-Brimborium.

Die Kraft dieser „Kirche der Angst“ kommt aus der Musik; aus der Faszination am christlichen Ritual und dem Widerwillen dagegen; aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte; manchmal auch aus dem Kitsch.

„Zu alldem bricht aus mir eine große Wut, eine große Bösartigkeit aus“, hat Schlingensief in seinen Aufzeichnungen geschrieben, was seinen Hass (etwa auf die Eltern) nicht unbedingt verständlicher macht. Fast immer aber strahlt eine Poesie, eine Trauer und eine Wärme aus diesen Zeilen, die vielleicht auch jene überraschen wird, die Schlingensief bloß immer als Zyniker, als Provokateur und als Clown missverstehen wollen.

„Der anfängliche Schub zu Jesus und Gott geht eher wieder weg. Vielleicht kommt er wieder, wenn man ganz am Arsch ist“, verkündet Schlingensief an einer Stelle.

Jetzt, in Duisburg, steht er am Altar, blinzelt durch die Lesebrille und spricht von Jesus, der „eben doch da“ sei, obwohl gerade noch das Gegenteil behauptet wurde. Schlingensief wird nach der Aufführung sagen, dass er sich gut fühlt; dass er kämpfen will gegen den Krebs, der im Augenblick durch Chemotherapie und Strahlen eingedämmt ist; er wird reden davon, nach Afrika zu reisen, wenn es ihm besser geht in ein paar Monaten.

Jetzt aber hebt er nur den Kelch und lächelt in die Runde, und für einen Augenblick glaubt man sie zu spüren: die Abwesenheit der Angst in der „Kirche der Angst“.

Von Wolfgang Höbel
Erschienen im SPIEGEL am 22.09.2008