ES GEHT HIER NICHT UM MEINE LEIDENSGESCHICHTE (DER STANDARD)

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Christoph Schlingensief ist zurück: In Duisburg baute er eine „Kirche der Angst“, der steirischen herbst zeigt „The African Twintowers“ – Über Krankheit und Kunst im Interview.

Standard: Die Film-Installation The African Twintowers, die ab 4. Oktober beim steirischen herbst gezeigt wird, entstand 2005 in Namibia. Seit damals hat sich Ihr Leben dramatisch verändert …

Schlingensief: Ich kam heuer im Jänner aus Nepal, wo ich für die Inszenierung „Jeanne d‘Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ für die deutsche Oper Berlin nach Erlösungsbildern gesucht habe, um sie mit dem streng katholischen Stoff von Walter Braunfels zu kreuzen. Wir haben dort die Verbrennung von Leichen gefilmt und diese Kinderarbeits-Ziegeleien besucht, wo acht bis 17-Jährige Ziegel produzieren und bis zu 30 Kilo Ziegel auf ihrem Rücken tragen. Dann haben wir ein Kinderkrankenhaus besucht, dass ein Einwohner gebaut hatte, weil sein Sohn im Alter von vier Jahren bei einem Unfall überfahren wurde und verblutete. Hier werden nun 10.000 Kindern im Jahr durch Impfungen oder ärztlichen Beistand behandelt. An diesen Orten habe ich gespürt, dass die eigene Arbeit uneffektiv und sinnlos ist. Zweifel an Kunst, an Theater, Oper. Eigentlich hat es mich nach Handgreiflichkeiten gesehnt. Zum Schluss schrieb ich in das Gästebuch: „Auf dass die kreisenden Gedanken endlich einen Grund finden.“ Und drei Tage später bekam ich das Röntgenfoto mit dem gut sichtbaren Tumor. Nach dem ersten Röntgen haben wir noch gehofft, es wären irgendwelche Pilze aus dem Amazonas oder Tuberkulose, doch in Berlin wurde klar, es war ein Adenokarzinom, ein Nichtraucherkrebs.

Standard: Wie haben Sie reagiert?

Schlingensief: Man kann sich das nicht vorstellen, man ist erfüllt von der Arbeit, gut gelaunt – und auf einmal wird man von 350 Stundenkilometern herunter gebremst. Ich hab mir abends meine Angst und alle Bilder in ein Diktiergerät von der Seele geredet. Dabei entstanden Fragen wie „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ oder „Hast Du mich wirklich verlassen?“ , „Will Gott mich richten? Aber wer ist Gott?“ , „Bin ich ein Teil Gottes, der Teil, der sterben kann?“.

Standard: Das alles ist in die Theater-Produktion „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ für die Ruhr Triennale eingeflossen.

Schlingensief: Ja, jeder Mensch produziert jeden Tag 1000 Krebszellen. Die werden dann normalerweise entsorgt. Bei allem, was die Schulmedizin leistet, hat der Krebs für mich ein individuelles Gesicht. Ich hab mich gefragt, warum in mir so genannte „entartete Zellen“ gewachsen sind.

Standard: Die „Kirche der Angst“ kam in Duisburg sehr gut an.

Schlingensief: Die Arbeit ist aufrichtig, ehrlich, berührend. Sowohl die Besucher, als auch die Kritik haben nicht nur positiv, sondern vor allem sehr offen reagiert! Es geht hier nicht nur um meine Leidensgeschichte, sondern um die schonungslose Offenheit über die Ängste und die Fragen, die sich einem stellen, zu begegnen. Die Leute kamen nach der Vorstellung zu mir und wollten reden, zum Beispiel, weil ihr Kind an Krebs erkrankt ist. Es sind Fragen, wie jene, warum soviel Leid in dieser großartigen Schöpfung sein muss. Es geht auch um den Wert des Inaktiven neben dem Aktiven, die verschiedenen Leiber, die es von Gott geben kann. Ich glaube, dieser Abend hat viele neue Dinge eröffnet, über die man noch viel arbeiten muss! Und wie es jetzt ausschaut, wird der Abend wohl demnächst wieder aufgeführt, auch in anderen Ländern, vielleicht auch in Österreich.

Standard: Sie gelten als geheilt.

Schlingensief: Ich hab den Krebs nicht besiegt, ich kann mit solchen Formulierungen nichts anfangen. Ich hab ihn jetzt erst mal raus, ich hab nur mehr einen Lungenflügel und ich kann damit gut leben. Klar gibt es die Ängste. Aber es war wichtig, den weißen Kitteln zu entkommen. Man muss wieder ins Leben eintreten! Jeder Patient hat das Recht dazu und die Gesellschaft muss ihm dabei helfen.

Standard: Leben Sie jetzt intensiver als vor dem Krebs?

Schlingensief: Ich bin supergerne auf der Welt. Aber jeden Tag wie den letzten leben, das erscheint mir zu pessimistisch! Wenn es blöd läuft, dann will ich lieber wieder nach Afrika, als dass ich hier mit fünf Schläuchen im Hintern herumliege, darin sehe ich keinen Sinn.

Standard: Was wird das Publikum auf den 18 Monitoren, auf denen African Twintowers läuft, sehen?

Schlingensief: Hier geht es eigentlich um Bilder, die sich aus dem Moment heraus abgebildet haben. Dass sich jeder daraus seinen individuellen Film bauen kann, ist Quatsch – wenn nicht mal ich in diese Geschichte eingreifen kann, wie soll der arme Besucher aus hunderten Stunden einen Film machen? Ganz im Gegenteil! Die Bilder unterhalten sich sogar miteinander, wenn keiner mehr da ist! Das muss man akzeptieren! Das ist die Freiheit der Bilder. In jedem Museum ist die Hölle los, wenn der Besucher und Wärter verschwunden ist. Ich müsste das ganze Ding auf einen Bahnhof, in einen Kassenraum, ein Shoppingcenter oder ins Schwimmbad stellen. Das würde den Bildern gefallen.

Von Colette M. Schmidt
Erschienen im gedruckten Standard vom 01.10.2008