Trauerfeier für einen Überlebenden, von ihm selbst inszeniert: Christoph Schlingensief eröffnet seine »Kirche der Angst« bei der Ruhrtriennale in Duisburg.
Sechseinhalb Milliarden Menschen leben auf unserem Planeten, alle werden sterben, darf sich da ein Einzelner, dem das Ende droht, so wichtig nehmen? Hundert Milliarden Menschen sind schon auf dieser Erde gewandelt, ihre Mortalitätsrate beträgt hundert Prozent, die Geschichte kennt keine Überlebenden, darf da einer derart himmelschreiend klagen, dem es womöglich an den Kragen geht?
Christoph Schlingensief hat diese Fragen für sich beantwortet: Er schreit. Er hat sich stets geweigert, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, er war zu dieser Trennung gar nicht fähig, und so war klar, dass seine verheerende Krebserkrankung, die im Januar offensichtlich wurde und die ihn einen Lungenflügel kostete, Teil seines Werks werden würde.
Das Stück heißt Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und ist jetzt in einer alten Fabrikhalle im verwunschensten, tarkowskijhaftesten Teil Deutschlands, im Landschaftspark Duisburg-Nord, inmitten stillgelegter, wie auf Grund gelaufener Industrieanlagen uraufgeführt worden. Die Aufführung, eine Produktion der Ruhrtriennale, ist die Totenfeier für einen Lebendigen, von ihm selbst geleitet. Die Halle, eine Gebläsehalle, ist mit Kirchengestühl möbliert, durch einen Mittelgang strömen Prozessionen zur Apsis, vorn links steht eine Monstranz, die ein Röntgenbild von Schlingensiefs geplünderter Brust enthält, und im Lauf des Abends werden Chöre das Gemäuer erdröhnen lassen.
In den siebziger Jahren gab es im Fernsehen die Show Das ist Ihr Leben. Einem prominenten Gast wurden lauter Menschen auf die Bühne und in die Arme getrieben, die ihm einmal etwas bedeutet hatten und die er dann aus den Augen verloren hatte. Im Zustand der dauernden höchsten Überraschung, Rührung und Dankbarkeit durchlebte der Stargast den Abend, und man hatte als Zuschauer den Eindruck, einer Trauerfeier beizuwohnen, bei der nur derjenige störte, dem sie galt; denn der stand noch sehr vital mitten unter den Lebenden.
»Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt«
Die Kirche der Angst ist etwas Neues: Sie ist Das war Ihr Leben, vom Künstler selbst inszeniert. Schlingensief ist der abwesende Gast und machtvolle Regisseur dieses Abends, eines Abends, der davon handelt, wie Krankheit ein Leben beendet, das eines Kindes, und ein neues beginnen lässt, das eines Erwachsenen.
Immer wieder nämlich lässt Schlingensief Bilder seiner eigenen Kindheit auf die Leinwände seiner »Kirche« projizieren, ein Doppel-8-Film aus dem Familienbesitz zeigt ein behütetes, von seinen Eltern geleitetes Kind in den Dünen der Nordsee.
Solche Schwarz-Weiß-Filme aus der Kindheit haben in Spielfilmen die Funktion, den Zuschauer auf das Ableben des Filmhelden vorzubereiten, zu dem das Kind heranwuchs: Der Sterbende sieht vor seinem inneren Auge, wer er einst war. Diese Bilder versunkenen Glücks sind sein kostbarster Schatz; er erlangt ihn erst im letzten Moment. Wenn der Regisseur vom Kind zum Erwachsenen zurückschneidet, ist der Erwachsene schon tot, er ist eins geworden mit dem Kind, ein Kreis hat sich geschlossen.
Auch Schlingensief setzt die Kinderaufnahmen, die sein Vater von ihm machte, ausgiebig ein, er trauert um das Kind, das er war, aber er legt sich nicht mit ihm zur Ruhe. Er scheint zu sagen: Jetzt beginnt etwas Neues. Das Kind gibt es nicht mehr; mich aber schon. Und ich bin jetzt ein anderer.
Die Kirche der Angst ist ein Das ist Ihr Leben vom Ende her, durch das Röntgenbild einer hohlen Brust gesehen. Schlingensief zeigt, woher er kommt und was ihn geformt hat. Szenen, Musiken, Gesichter, Gefährten aus früheren Inszenierungen marschieren auf, Filme der Fluxus-Kunstbewegung sind zu sehen, und der Hasenkadaver aus seinem Bayreuther Parsifal (2004) wird vor unseren Augen noch einmal von Maden und Kleinstlebewesen so rabiat überfallen, dass das Tier unter seinem kalten Fell zu zittern und zu tanzen scheint.
Es kann einen bei aller Rührung wütend machen, wie wichtig Schlingensief sich nimmt: völlig unmäßig, dass er sich eine Oscar-Zeremonie für den stärksten Lebenswillen ausrichtet; dass er am Ende das Brot bricht und das Abendmahl feiert; dass er die Erkrankung als »unglaubliche Beleidigung« für einen bloß 47-Jährigen bezeichnet (jeden Tag sterben Tausende von Kindern; sind die beleidigt? Welche Kirche haben die?); dass er sich mit Jesus identifiziert, der am Kreuz nicht geklagt, sondern nur »Aua« gesagt habe; dass er in fremder Aufmerksamkeit baden muss; dass er offenbar unfähig ist, allein zu sein.
Aber Schlingensief hat immer die eigene Haut, das eigene Fleisch zu Markte getragen, er bewirtschaftet die eigene Biografie, ein Midas der Kunst, dem alles »Werk« und nichts »privat« ist. Und wieso soll man das Dringendste verschweigen? Warum soll ausgerechnet er Privatsache sein, der Tod?
Die alte Maxime, derzufolge Kunst das große Als-ob, das Instrument des Handelns auf Probe sei, das Spiel, welches den Menschen vom Tier unterscheide – Schlingensief fühlte sich an sie nie gebunden. Für ihn gibt es kein Handeln auf Probe, was er tut, schreit danach, Konsequenzen zu haben. Was er auf der Bühne tat, war oft ungeprobt, und es ließ sich nie so einfach zurücknehmen.
Wenn Canetti in seinem Tagebuch schreibt: »Mich brennt der Tod«, so kann man hinzufügen: Schlingensief schreit unter den Verbrennungen auf, in aller Öffentlichkeit. Und es tut ihm gut. Er ist das gebrannte Kind, das seinen Schmerz zeigt.
Im Stück heißt es, als Verneigung vor Beuys: »Ja, zeig mal deine Wunde. Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.« Das Verbergen ist auch unter Künstlern das Übliche. Einer stirbt, und die anderen halten still. Von Krankheiten wird raunend erzählt, Berichte kursieren über den bedauernswerten Zustand von diesem oder jenem, aber wenn der Tod umgeht, herrscht auch in der Kunstszene das Vorort- und Stadtrand-Schweigen. Die meisten Künstler verfahren mit eigener Krankheit wie alle anderen auch: Sie reden nicht darüber, sie lassen es geschehen, dass man sie abschiebt aus der Öffentlichkeit, dass man sie entlässt in jene Sackgasse aus Fürsorge und Vergessen.
Dass das mit Schlingensief nicht zu machen sein würde, war klar. Es war abzusehen, dass er die Krankheit in sein System einbeziehen und sich von ihr nicht willenlos abschleppen lassen würde. Dass Krankheit mit Schmach, Schande, Kapitulation gleichzusetzen sei, akzeptiert er nicht. Er hält sich wieder mal nicht an die gesellschaftlichen Vereinbarungen, und im Grunde muss man ihn dafür lieben.
Er baut sich also seine eigene Kirche und funkt von dort aus Gott an. »Denn der Organismus«, so sagt er, »besteht auch aus Stammhirn, und das Stammhirn arbeitet auch dann noch weiter, wenn der andere bereits geschossen hat. Halleluja!«
Will er Gott nur treffen? Oder will er selbst Gott werden?
Der andere aber, der geschossen und die Krankheit auf ihn losgelassen hat, ist Gott. Was Schlingensief da formuliert, ist der Plan zu einem Gegenschlag. Im Lauf des Abends begreift man seine Aktion immer weniger als den Akt eines wahnwitzigen Narzissten, der in unseren Blicken baden will. Man kommt dahin, Schlingensiefs Aktion auch als Akt der Großzügigkeit zu begreifen: Ein Mann vergesellschaftet seine Angst; er stellt sie uns wie einen Überschuss an Wärme zur Verfügung.
Manchmal hört man seine eigene Stimme in der Düsternis hallen: Das sind Aufnahmen, die er mit dem Diktafon im Krankenzimmer gemacht hat. Er wollte auch in der Agonie noch Material sammeln und der Krankheit seinen Gestaltungszwang entgegenhalten.
Die Krankenhausprotokolle dienen als Grundlage dieser Liturgie. Suizidgedanken sind zu hören: Eine private Guillotine wäre die Lösung, viel Whisky dazu, »und das Seilziehen klappt hoffentlich von alleine«. Oder doch weiterleben? Mit Schmerzmitteln in »mein Afrika« reisen, Tonbänder vollsprechen? Aber kann man sich in diesem Körper noch heimisch fühlen? Kann man sich in der Krankheit einrichten?
Man hört den Text, von Schlingensief oder von den Schauspielerinnen Margit Carstensen und Angela Winkler gesprochen, und manchmal liegt eine Kinderstimme darunter, die dieselben Worte spricht. So wird verdoppelt, historisiert, was wir eben mühsam verstehen wollen. Schlingensief versetzt das eigene Schluchzen in die Vergangenheit eines Nachruf-O-Tons. Ein gespenstischer Effekt; womöglich ist es Schlingensiefs Versuch, die fürchterliche Einsamkeit zu dämpfen, die aus diesen Zeugnissen spricht.
Der Text ist auch das Dokument eines großen Zorns – auf Gott und auf die Eltern. »Ich will meine Eltern nicht. Papa ist schon weg, Mama soll auch noch weg!«, sagt eine Stimme. An die Adresse der Mutter gehen insgesamt 139 rituelle Schuldzuweisungen (»Hättest mich ja besuchen können! Bist ja lieber zu Hause geblieben und hast Schokolade gefressen!«).
Die Kirche der Angst ist ein Spiel mit dem Tod, aber kein trockenes, schwarzhumoriges, wie es der Pianist Friedrich Gulda trieb, als er der Presse anonym von seinem eigenen Tod Mitteilung machte, sondern ein barockes, überbordendes, verrücktes.
Das ist der Weg, den unser Glauben uns verheißt, und Schlingensief inszeniert ihn mit den Mitteln des Theaters, der Kirche und der Geisterbahn: einmal sterben – und auferstehen. Und wenn am Ende die beiden Chöre des Abends, der Gospelchor Angels Voices und der Kinderchor des Aalto-Theaters, miteinander konkurrieren und schließlich miteinander verschmelzen, tiefe Nacht und fröhliche Morgenfrühe, dann ist etwas spürbar wie Einverstandensein mit dem, was so gern beschrieben wird als »Kreislauf von Werden und Vergehen«.
Man hatte sich angewöhnt, Schlingensief für einen gleichsam automatischen Provokateur zu halten, bei dem nie klar war, ob er an Gott innig glaube oder ihn nur als Wurfziel und zentrale Leerstelle in seinem Kunstsystem brauche. Schlingensief zeigte Pornoszenen im Burgtheater, brachte Schwerkranke auf die Bühne, ließ die geografische Lage ausgesuchter KZs im Bühnenquiz erraten, schwelgte in Verfall und Verwesung, immer so, als wolle er Gott herausfordern und ihm sagen: Siehe, es ist nicht gut; Deine Schöpfung taugt nicht.
Man hatte die Erwartung, er würde auch im Angesicht des Todes noch lachen. Aber in der Kirche der Angst hört man ihn schluchzen. Seine Stimme bricht, als er sagt: »Ich hab ja nicht geraucht. Ist noch unbegreiflicher, was das Schicksal da macht.« Er hat ja nicht geraucht! Die Unschuld dieser Szene ist peinsam groß, und fast rechnet man damit, dass er in Kinderempörung hinzufügt: Wie ungerecht ist das denn?
Das Schlingensief-Theater rasselte über Jahre hin mit seinen Ketten, schier wahnsinnig über seine Ohnmacht, sein blindes Allesdürfen. Es forderte die Köpfe berühmter Politiker, und die Leute lachten. Es störte die Ruhe der Toten und wurde gefeiert, es verhöhnte die Kirche, und nichts geschah. Es rüttelte an der »Kunstfreiheit«, als wollte es diese dämliche, alles beschattende Leibwächterin los sein und endlich zur Verantwortung gezogen werden. Diesem Zustand ist es nun nahegekommen.
Der Aberglaube warnt davor, das auszusprechen, wovor man sich fürchtet, da es dann gewiss eintreffe, aber Schlingensief sprach schon immer alles aus, wovor er sich fürchtete. 2004, als er in Bayreuth an seiner Parsifal-Inszenierung saß, sagte er, er werde über dieser Arbeit wahrscheinlich krank werden, Krebs bekommen. Seine Zuschauer beschimpfte er als »Durchimmunisierte«, denen die rettende Erfahrung des Schmerzes fehle. Er war von der Idee der Krankheit besessen, sie bedeute Entgrenzung, eine Art des Rausches, und fast hatte man den Eindruck, er wolle sie im Sprechen herbeirufen.
Nun setzt er das System seiner Kunst gegen das System der Krankheit; ein Geschwür gegen das andere. Was er tue, hat er mal gesagt, sei bloße Abwehr des Bösen, selbst wenn es sich als das Böse tarne. So funktioniere sein Voodoo-Glaube. Was den Voodoo-Gläubigen vom Christen unterscheide, haben wir damals gefragt. »Der Christ«, so Schlingensief, »geht in die Kirche, um Gott zu treffen. Der Voodoo-Mann will selbst Gott werden.«
Diese Möglichkeit bleibt ja noch; an ihr scheint er nun zu arbeiten.
Von Peter Kümmel
Erschienen in der ZEIT vom 25.09.2008