Mit der verwirrend dichten Opern-Revue „Mea Culpa“ gelingt es Christoph Schlingensief auf hinreißende Weise, die „Burg“ in eine Therapiestation zu verwandeln
Wien – In Mea Culpa verwischt Christoph Schlingensief eine heikle Markierung: Er ignoriert die Schwelle, die die Gesunden von den Kranken trennt. Indem er seine Krebserkrankung zum Thema einer Oper erhebt, die er obendrein auf der größten deutschsprachigen Schauspielbühne zur Uraufführung bringt, setzt er den Kunstbezirk unter Druck: Eine wunderbare Einrichtung wie das Burgtheater muss unter verschwenderischer Aufbietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen „Wahrheit“ über uns Menschen herausrücken.
Am Ende des Tages, wenn die Kulissen auf Janina Audicks Drehbühne endlich zur Ruhe gekommen sind, wenn Isoldes letzter Liebestod von Elfriede Rezabek berückend schön gesungen ist und ein unbeschreiblicher Jubel losbricht, dann ist Schlingensief mit seiner Erkrankung ganz allein. „Das war so schön. Ich danke euch sehr! Aber ich mag einfach noch nicht!“, sagt Joachim Meyerhoff, der als wunderbares Alter Ego seines Regisseurs den Kranken gegeben hat.
Meyerhoff tritt seine Parsifal-Reise in einer Ayurveda-Klinik an: in einer gutbürgerlichen Verwahranstalt mit merkwürdigen Pflegern (Hermann Scheidleder als Rokoko-Diener), mit einer Gedichtrezitatorin (Irm Hermann), mit einer asiatischen Zotenreißerin (Sachiko Hara), die als bedrohlich wirkende Fachkraft für Einläufe und sexuelle Dienstleistungen verantwortlich zeichnet. Schlingensief setzt seiner eigenen, „kleinen“ Leidensgeschichte die großen Symbole auf.
Der Laie als Star
Seine Oper („Erster Akt: Ein Blick aus dem Jenseits ins Hier“) schummelt sich über eine Parsifal-Wiedergabe gleichsam in ihr eigentliches Thema hinüber. Sie dekoriert sich anspielungsreich mit Schlingensief-Material: erklärt den leidenden Künstler zu einem Mischwesen, halb schuldiger Amfortas, halb reiner Tor. In ihr werden aber auch Laien zu Stars erklärt und Narren zu Weisen erhoben. Eine kleinwüchsige Darstellerin erscheint im päpstlichen Ornat; Fritzi Haberlandt vom Berliner Gorki-Theater gibt Meyerhoffs sauertöpfische Lebensgefährtin.
Schritt für Schritt übersiedelt der mit der niederschmetternden Krebsdiagnose versehene Regisseur, also Meyerhoff, in ein Traumland, dessen erkenn- und deutbare Ausmaße ein modellhaftes Gegen-Bayreuth bilden: Der Künstler möchte ein „Festspielhaus Afrika“ errichten. Es zeugt von Schlingensiefs kunstreligiösem Ernst, dass die Heilung der Wunde „Sterblichkeit“ aus der Idee des Gesamtkunstwerks kommen soll.
Man glaubt, sich an den „echten“ „Parsifal“ zu erinnern: Der Speer, der die Wunde schlug, soll sie auch wieder schließen helfen. Es berührt eine kindliche Dimension in Schlingensiefs Werk, dass er die Aspekte der Lebenswelt mit denjenigen der Kunst so bedenkenlos kurzschließt wie kein anderer. Wenn er selbst, am Ende des zweiten Aktes („Jenseits der Grenze“ und „Ein Blick ins Jenseits“), via Landungsbrücke über das Parkett die Bühne ansteuert, eigenes Filmmaterial in Augenschein nimmt und sich an den Sekretär setzt, um mit der Verlesung von Krankenpost den Moribunden wie auch den Gesunden Mut zu machen, dann wird das ganze Können dieses legitimen Wagner-Erben ersichtlich.
Schlingensief mag kein zweiter Beuys sein. Aber er ist sich auch nicht zu schade, das kleinste Realitätspartikelchen aufzulesen, um es seinen betörend bilderflackernden Materialskulpturen anzuheften. In gar nicht so wenigen Augenblicken bilden in „Mea Culpa“ Realitätssinn und Kunstgläubigkeit, aber auch Selbstbezogenheit und Sozial-Engagement eine szenisch zupackende Einheit. Diese ist als Therapie gedacht und bleibt vom Zerfall bedroht – aber welche menschliche Einrichtung wäre das nicht? Fürs Erste wurde das szenische Hochamt (mit dem Viva Musica Festival Orchestra) mit frenetischem Jubel angenommen.
(Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 23.03.2009)