Das Persönliche muss auf die Bühne des Wiener Burgtheaters: In seiner Inszenierung der Readymade-Oper „Mea culpa“ erzählt Christoph Schlingensief von seiner Krebserkrankung.
VON EVA BEHRENDT
„Das Werk des Heiligen ist in erster Linie sein Leben.“ So weit ist es also schon gekommen: Man kehrt von einem Schlingensief-Abend am Wiener Burgtheater nach Hause zurück und fängt sofort an, sich in Walter Niggs „Große Heilige“ zu vertiefen. „Der Heilige tritt als der unbedingte Mensch dem Dämon der Zerstörung entgegen“, schreibt der Schweizer Theologe. So kann man den Regisseur im Kampf gegen Krankheit und Tod unbedingt beschreiben. Und wäre nicht auch die Hagiografie, also die Heiligengeschichtsschreibung, dem Charismatiker Schlingensief angemessener als eine Rezension?
Christoph Schlingensief, der Anfang vergangenen Jahres lebensbedrohlich an Lungenkrebs erkrankte, hat seine Krankheit auf eindrucksvolle Weise zum Sujet seiner Kunst gemacht. Für die Ruhrtriennale inszenierte er im September im Duisburger Gebläsewerk „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ als grandiose Fluxus-Beerdigungsmesse für „den zukünftig Verstorbenen“, in der wiederaufgenommenen Skizze „Der Zwischenstand der Dinge“ am Berliner Maxim Gorki Theater berichtete er im November, dass es nach der jüngsten Diagnose für den verbliebenen Lungenflügel „scheiße“ aussehe. Jetzt, nach einer glücklicherweise anschlagenden Therapie, erzählt der stabilisierte Patient seine Leidensgeschichte in der Readymade-Oper „Mea culpa“ weiter, als kinderbibelbuntes Fortsetzungs-Stationendrama aus dem Leben des beispielhaften Ausnahmekranken, der, wie sich im Laufe des Abends herausstellt, gar nicht nur Ausnahme sein will.
Ohnehin ist Schlingensief kein reiner, sondern eher ein schmutziger oder komischer Heiliger, der darauf beharrt, dass kein prüfender Gott, sondern er selbst seinen Krebs zu verantworten hat. Auf dem Theater lässt er sich diesmal vom Schauspieler Joachim Meyerhoff vertreten, der im grünen Samtanzug mit Schlaghose Sanftmut und Begeisterung verströmt. Nach einem Opernvorspiel vor den Toren der Pappgralsburg, die Janina Audick auf die Drehbühne hat zimmern lassen, zieht das Künstlerdouble zusammen mit Fritzi Haberlandt in der Doppelrolle als Schlingensiefs Verlobte und Jörg Immendorffs junge Witwe in die Krankenhauszimmer auf deren Rückseite ein. Hier, in der Ayurvedaklinik in Bad Schandau, wo Schlingensief tatsächlich zur Kur war, moderiert Margit Carstensen eine Jubiläumsfeier zum 40. Geburtstag, präsentiert Irm Herrmann das bizarre Gipsmodell eines künftig zu bauenden Ayurvedaturms in Dubai, steigt Meyerhoff in eine lehmfarbene Krebszelle und wieder hinaus, bis alle singen: „Wir wolln entspannen, bis die Welt sich nicht mehr dreht.“
Diese kabarettistischen Bravourstückchen, die die Krebstherapie liebevoll auf die Schippe nehmen, hebt Schlingensief in der ganz großen Oper zwischen Hochkultur und Trash auf. Ein Orchester aus Bratislava begleitet den Abend mit Schönberg, Schubert, Schumann und sehr viel Wagner, woraus Arno Waschk eine erstaunlich kohärente Partitur komponiert hat, ein Trupp farbiger Darstellerinnen und Sänger tritt als Boten des afrikanischen Festspielhauses auf, das nach dem Willen des Regisseurs „die auf dem Grünen Hügel vor Neid erblassen“ lassen soll, und der Chor der Wiener Universität hebt zu einer versöhnlichen Ode an die Freude an: „Der Mensch“, heißt es, „ist Herr der Gegensätze.“ Burgschauspieler und Laiendarsteller geben sich die Klinken in die Hand, Stimmen werden verzerrt, und wenn das Orchester schweigt, dröhnt Filmmusik. Der trotz der Verschachtelung auf vielen Ebenen erstaunlich klare Musik- und Bilderreigen greift Elemente aus früheren Werken auf und sieht doch neu und anders aus.
Getreu dem Beuys-Motto „Zeige deine Wunde“ spricht Schlingensief auch an diesem Abend seine persönlichen Themen an, wenn auch meistens durch andere Figuren. Mira Partecke verzweifelt hysterisch als Kundry daran, dass sie immer missverstanden wird, sich aber nicht ändern kann, und erschießt sich. Fritzi Haberlandt beschwert sich über den manisch Verrisse sammelnden Freund. In einer anderen Szene kniet sie neben Joachim Meyerhoff auf einem Kirchenbänklein wie kurz vor dem Jawort, eine offene Liebeserklärung des geläuterten Künstlers an die Freundin und Kostümbildnerin Aino Laberenz. Meyerhoff-Schlingensief wiederum trifft seinen toten Vater, möchte ihn eigentlich doch noch nicht wiedersehen und auch den Liebestod noch nicht sterben. Zuvor ist Schlingensief selbst aufgetreten, hager und hohläugig, und hat anhand eines Videos von seiner Wagner-Inszenierung in Manaus erklärt, wie wichtig die Dunkelphasen (der Kamera) für sein Leben sind: „Das ist der Moment, wo man sich bewegt, um eine andere Perspektive einzunehmen.“
„Mea culpa“, das Theater nach einer langen Dunkelphase, wirkt distanzierter als die „Kirche der Angst“ – und doch umarmt es immer wieder das Publikum. Schlingensief lässt Texte anderer, Wunden zeigender Kranker vorlesen, von Derek Jarman bis Jean-Luc Nancy, und relativiert damit seinen vermeintlich provokanten Sonderstatus als Tabubrecher, der seine Todesangst formuliert. „Schreiben Sie auch mal ein Buch, wenn Sie Krebs haben“, ruft er den Zuschauern zu und spielt schlau auf sein Krebstagebuch an, das im April erscheint. Auch dieser unheilige Heilige, so scheint es, sucht Anschluss an die anderen und ihre Liebe. Am Schluss schaut ein letztes Gesicht durch den roten Vorhang und sagt vergnügt: „Wir sind eins. Tschüss!“
taz vom 22.03.2009