Peter Michalzik über Christoph Schlingensiefs „Mea Culpa“ in Wien
Christoph Schlingensief ist heute Joachim Meyerhoff. Meyerhoff trägt einen dunkelgrünen Samtanzug und möchte uns von seiner Idee überzeugen, in Afrika ein Opernhaus zu errichten: keine Kulturvermittlung mehr, sondern Kulturverschmelzung. Schlingensief meint ernst, was Meyerhoff sagt. Das afrikanische Opernhaus ist sein Traum.
In diesem afrikanischen Opernhaus spielt der dritte und letzte Akt der jetzigen Aufführung, er heißt „Ein Blick ins Jenseits“. Dort träumt Schlingensief-Meyerhoff von Andreas, einem Schulfreund, der sich das Leben genommen hat und der im Jenseits auf den einst Geliebten wartet. Dann träumt er von seinem toten Vater, dem er sagt, dass er ihn so lieb gehabt habe, dass es aber auch gut sei, dass er sich vom Acker gemacht habe. Mein armer Sohn, sagt der Vater. Der schreit: Ich bin nicht arm. Ich habe hier noch so viel vor.
„Mea Culpa“ heißt Schlingensiefs großer, ergreifender Theaterabend im Wiener Burgtheater, er nennt ihn eine „Readymade-Oper“. Das ist diese aus unübersehbar vielen Zitaten, Bildern, Musiken, Gedanken und Gefühlen gebaute Bühnen-Überwältigung sicher, vor allem anderen aber ist sie eine neue Art von Psychodrama. Eine Aufführung, die um Schlingensief, seine Seele und seine Krankheit, den Krebs, kreist wie ein gewaltiger Strudel, angezogen und zum Rotieren gebracht von einem Schwarzen Loch, das niemand kennt, nicht einmal der Meister, dem Schlingensief uns alle aber näher bringen will. Es ist hier dunkel und fern, aber auch wahr und groß, es ist der Tod.
Schlingensief stellt sein Innerstes so deutlich aus, dass es wie eine Passionsfrucht inmitten der meist finsteren Bühne schwebt, tropfend vom roten Saft des bitter Erfahrenen, zu praller Reife gebracht von der dunklen Sonne des Durchlebten. Entweder leiden wir an diesem Abend mit, oder wir erleben nichts. Schlingensief macht es uns nicht schwer. Denn alles und jedes, was unsere Welt um den Krebs und die Todeserfahrung herum gebaut hat, alles was sie tut, um die mysteriöse Krankheit und den Tod zu bewältigen und zu verdrängen, wird von Schlingensief zunächst durch den Kakao gezogen, einschließlich seiner selbst und seiner Aufführung. So befreit er uns, um uns mit ins dunkle Nichts zu nehmen.
Es beginnt mit dem „Parsifal“, den er vor sechs Jahren in Bayreuth inszenierte und mit dem er wahrhaftig meinte, sich und die Welt erlösen zu können. Hier, im Scheitern daran, sieht er den Keim seiner Krankheit. Spätestens wenn „Die Wunde, die Wunde“ geschrieen wird und Amfortas in eindeutiger Absicht auf Kundry liegt, und das ist sehr bald, wird seine heutige Haltung dazu sichtbar: Er lacht über sich selbst genauso gelöst wie über den vergötterten Wagner. Dann spottet die Aufführung befreit über eine Ayurveda-Kurklinik, wo es vereinsmeierisch, götzenanbeterisch und geldstinkend zugeht. Schlingensief macht sich genüsslich über die selbstzufriedene Kunstwelt her, die sich in ihrer angepassten Dissidenz gefällt. Er stellt dazu die ignorante Dummdreistigkeit der Schulmediziner bloß. Und er macht sich entspannt über hocherregte Theaterregisseure lustig. Wie tut das alles wohl.
Schlingensief, der Regisseur, verwendet die vollgestellte Drehbühne aus dem „Parsifal“ und seines Animatographen, um das alles und noch viel mehr unterzubringen, auf der Bühne steht eine Krebszelle, im Hintergrund hängt leuchtend sein entfernter Lungenlappen. Voxi Bärenklau legt wie in Bayreuth ein filmiges Flimmern über die Dunkelszenerie, graues Grisseln mischt sich mit Menschen- und Tierbildern, wir sehen Egel und Fledermäuse – ein Flimmern, das die Fülle zu einer Einheit verschmilzt. Der Komponist Arno Waschk, Richard Wagner und viele Musiker betten das in ein vibrierendes Klanggebäude, das immer wieder ergreift und mit Schlingensiefs Gedankensprüngen keine Mühe hat. Im Erschaffen eines gelassen strömenden Flusses für die sprudelnde Ideenfülle hat die Schlingensief-Mannschaft Meisterschaft entwickelt, da macht denen niemand etwas vor.
Es versammelt sich eine große, ebenso vielgestaltige Menschengemeinde auf der Bühne. Die Kleinwüchsigen, Greise und Kranken, die Schlingensief so liebt, stehen und sprechen neben sechs Sängern, dazu Orchester und Chor. Fritzi Haberlandt, Irm Hermann, die Ironikerin Margit Carstensen und der Kommunikator Joachim Meyerhoff vermischen sich mit vier schicken, jungen Schwarzen, die am Anfang Krankenschwestern und am Ende im afrikanischen Opernhaus Models spielen.
„Mea Culpa“ ist eine reife Arbeit, elegisch, parodistisch, exhibitionistisch. Die Haltung aber ist heiter. Und Schlingensief kommt – dann doch leibhaftig und nicht als Meyerhoff – als sein eigener Einspruch auf die Bühne. Ja, sagt er, ich will mich öffentlich machen. Auch wenn es anmaßend ist. Ja, sagt er, macht Euch alle öffentlich. Ja, in der Dunkelheit, dort wo wir alle allein sind, dort treffen wir uns dann. So bewegt sich Schlingensief mit neuer Liebe durchs Leben, was für eine schöne Nachricht. Und so bewegt er uns. Und macht Mut zu einer schwierigen Erkenntnis: Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand.
Übrigens: Dass der Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung Die Presse in der sechsten Reihe die Dunkelheit mit leuchtendem Laptop erhellte, gehörte nicht zur Aufführung, sondern war nur schlechter Stil.
Frankfurter Rundschau vom 22.03.2009