Von Peter Michalzik und Dirk Pilz
Für alle, die mit den örtlichen Gegebenheiten in Zürich nicht ganz vertraut sind, hier der Kurzreiseführer: Der Pfauen ist die Bühne des Zürcher Schauspielhauses in der Rämistrasse, das Theater am Neumarkt ist ein Theater am Neumarkt. Der Pfauen ist groß, das Neumarkt klein, beide liegen nah beieinander, dazwischen aber liegt noch das Kunsthaus. Christoph Schlingensief machte während seiner Aufführung vom Neumarkt zum Kunsthaus und weiter in den Pfauen eine Prozession, direkt hinein in die dortige Aufführung von René Pollesch. Das sorgte, nicht nur bei Pollesch, für schöne Verwirrung.
Wo überhaupt sollte man hingehen? Im Pfauen zeigte Pollesch sein neues Stück „Calvinismus Klein“, während der krebskranke Schlingensief parallel im Neumarkt sein neues Stück „Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten.“ zur Aufführung brachte. Während Schlingensiefs Arbeit eine einfache, persönliche Skizze zum „Sterben“ ist, setzt Pollesch sich mit „Liebe“ und dem „interpassiven Theater“ auseinander. Hier folgt, da der teilbare Theaterkritiker noch nicht erfunden ist, die „interaktive Doppelkritik“ mit Clash im Pfauen und Epilog im Neumarkt.
Wie redet man über das Sterben? Eine Antwort auf die Frage wäre fast schon ein Antwort auf die Frage: Wie stirbt man? Das ist Schlingensiefs Frage. „Ich atme ein, ich atme aus“ sagt Herr Andersen und geht damit auf die Bühne, genauso wie seine Frau.
Weder für Jean Chaize noch für Brigitte Cuvelier ist das Deutsche die Muttersprache, beide strengen sich sehr an, deutlich zu sprechen. Andersen erfährt, dass er in 60 Minuten sterben muss, seine Frau jammert darüber mehr als er. Die beiden schönen Töchter Andersens interessieren sich nicht sehr für den Vater. Und flugs geht es auf den ersten Elementarsatz zu: „Der Künstler kann das Nichtkönnen, das muss auch der Sterbende lernen: das Können des Nichtskönnens.“
Alles kugelt
Es ist Programm: Alles ist hier Skizze, bloß keine Stilisierung, bloß kein künstliches Gefühl. „Und nachher gehen wir lecker Pizza essen“, sagt Frau Andersen zum Nichtkönnen. Daneben kugelt ein Baby im Kinderwagen eine Treppe hinunter und man kugelt sich überhaupt am Boden, auch das betont unprofessionell, dazu viel Wagner vom Band und viel Video. Ein typisches Schlingensief-Chaos, diesmal in der ganz kleinen Form. Dazwischen werden wir und Herr Andersen immer wieder daran erinnert, wie viele Minuten er noch zu leben hat. „Noch 47 Minuten.“
Dann die Prozession zum Neumarkt. Sie wird von vielen singenden Messdienern begleitet. Frau Andersen ist jetzt Maria, Herr Andersen wird Christus, trägt sein Kreuz und bricht darunter zusammen. Eine Zürcher Passion. Im Kunstbau wird Andersen das erste Mal in den Sarg gelegt. Ein Schild verkündet der Stadt: „Aktion Aufrecht sterben“, ein Megaphon kracht, jemand ruft: „das Gefühl des Schmerzes“. Da erschallt der Ruf: „Habemus Papam!“ Schlingensief erscheint als Papst und mit Wuselperücke auf einer Sänfte: „Ich kann Euch leider nicht helfen! Lasst uns in den Pfauen gehen.“
Dort, im Pfauen bei René Polleschs „Calvinismus Klein“, hat Martin Wuttke seit knapp einer Stunde immer wieder gerufen: „Ich verstehe das nicht!“ Die Hand wischt dazu fahrig die Stirn hinauf. „Warum müssen wir immer selbst lieben? Ich will, dass das endlich jemand anderer für mich macht.“ Wuttke rennt die Treppe hinauf, verheddert sich im Vorhang, und Carolin Conrad schiebt die Stirn in Falten: „Ich kann deiner Logik nicht folgen.“ Aber um Logik geht es auch nicht. Es geht in René Polleschs jüngstem Werk um das „interpassive Theater“, sagt Wuttke, um „die Unaktive im Bad!“, sagt Conrad, um den „Boulevard-Schmerz“ wird Schlingensief gleich sagen.
Niemand kann so schön verwechslungskomödienselig Theorien, Theaterformen und Thesen ineinander schachteln und gleichzeitig so glaubenseifrig seine Dogmen predigen wie René Pollesch. Deshalb auch der Schmerz: Polleschs Theater will, dass wir an Erkenntnis gewinnen, es will aber auch, dass wir nicht dauernd unseren Kopf anschalten. Immer streiten diese zwei Seelen in seinem Bühnenspiel, und fast immer siegt die Amüsierlust des Publikums – es wurde auch in Zürich viel und herzhaft gelacht. Wahrscheinlich gibt es im Stadttheaterbetrieb derzeit kein besseres Boulevardtheater, zumal wenn es mit zwei Schauspielern wie Conrad und Wuttke gesegnet ist.
Eine widerliche Kunstform
Mit Calvin hat diese Show in der Zwingli-Stadt Zürich allenfalls am Rande zu tun. Überhaupt ist die neueste Polleschiade kaum mehr als eine fahrige Vorstudie zum „interpassiven Theater“. Wuttke und Conrad verwechseln es dauernd mit dem „interaktiven Theater“, diese „widerliche Kunstform der Geselligkeit“. Interpassives Theater wäre, sagt Wuttke, „wenn der Schauspieler am Ende mit deiner Begleitung nach Hause geht. Dann musst du das nicht tun.“ Das interpassive Theater ist Entlastungstheater. „Aber ein interpassives Theaterstück, was soll das sein?“ Carolin Conrad holt sich ein neues Kleid, Martin Wuttke verzweifelt. Boulevard eben.
Und dann kommt Schlingensief auf die Bühne: „Es geht nicht um mich!“ Die Messdiener summen „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, Schlingensief erinnert an seinen Neonazi-Hamlet vor acht Jahren in Zürich und verliest in Schweizerdeutsch aus der „20-Minuten-Zeitung“, was die Zürcher vom Minarett-BauverbotVolksentscheid halten: „Jo sicher, isch des guot so!“ Wuttke und Conrad spielen einfach weiter, Schlingensief robbt die Rampe entlang: „Ich will eure Toilette sein.“ „Und ich will Entlastung!“ ruft Wuttke. Boulevard-Schmerz eben.
Also schnell zurück zum Sterben. Wieder wird unterwegs gesungen, „Tod ist ein langer Schlaf, Schlaf ist ein kurzer Tod“. Beim Epilog im Neumarkt hören wir viel „Parsifal“, auf dem Video sehen wir eine Spinne in Großaufnahme. Adorno sagt durch den Mund der Tochter Janine, dass die Musik nicht sterben kann. Herr Andersen legt seine Familienmitglieder um und wird dann endgültig in den Sarg gelegt. Da tritt noch einmal „Papst Mabuse“ Schlingensief auf.
Schon den ganzen Abend lang war die Frage „Wie sterben?“ gleichbedeutend mit der Frage „Wie kann ich in Gott sein?“
Nun sagt Schlingensief uns, ganz einfach, dass er nicht an die Holzfiguren Josef und Maria an der Krippe glauben kann. Er sagt es aber so, dass man ihm glaubt, dass er gerne an die beiden glauben würde. Schlingensief kann und will ohne Glauben nicht leben – und nicht sterben. Er steigt jetzt in die mystische Welt von Meister Eckhart, Nikolaus von Cues und Slavoj Zizek.
Gott ist, sagt Schlingensief, und meint es ganz ernst, Gott ist genauso zerrissen wie wir. Weil Gott nicht mit sich eins ist, können wir eins mit ihm werden. „Nur dann, wenn ich den unendlichen Schmerz der Trennung von Gott erlebe, teile ich eine Erfahrung mit Gott selbst, mit Christus am Kreuz.“ Er meint das als Trost und Möglichkeit.
Was Schlingensief in Zürich zeigt und tut, ist kein Theater mehr und keine Kunst. Wenn es etwas ist, dann ist es Gottesdienst. Es ist noch näher am Gottesdienst als es die „Kirche der Angst“ war. Und was er sagt, ist sehr nahe an der Predigt. Das geht, ohne peinlich zu sein, weil er es nicht zu kaschieren sucht. Schlingensief fragt angesichts seines Sterbens naiv und öffentlich nach Gott. Er ist jetzt wirklich ein Sterbelehrer. Wenn es noch Propheten geben könnte, müsste man ihn einen Prophet nennen. Die Position jedenfalls ist vakant.
Theater am Neumarkt: 8. Dezember Schauspielhaus Zürich, Pfauen: 8., 14., 16., 18. Dezember
www.temporaereleichenhalle.ch
www.schauspielhaus.ch
Frankfurter Rundschau vom 6.12.2009