Zürich: René Pollesch und Christoph Schlingensief machen Theater in Zeiten des Minarettverbots
Wie sich die Bilder gleichen! Der neutrale Kleinstaat Österreich, über Jahrzehnte hinweg angeblich eine „Insel der Seligen“, geriet ins Gerede, bis er plötzlich seinen guten Ruf verloren hatte. Die Stichworte „Waldheim“ und „schwarzblaue Koalition mit Jörg Haider“ stehen einerseits für internationale Isolation, andererseits für die überfällige Auseinandersetzung mit der eigenen Täterschaft im Dritten Reich. Man fühlte sich arg missverstanden und verleumdet, ins Abseits der Europäischen Union gedrängt, geradezu von Feinden umringt. Man suchte Zuflucht in der Trotzhaltung des „Jetzt erst recht!“
Ein schmerzhafter Bewusstseins- und Mentalitätsprozess setzte ein. Viele lieb gewordene Klischees vom typisch Österreichischen gingen in Brüche. Im Wende-Frühling 2000 realisierte Christoph Schlingensief für die Wiener Festwochen vor der Staatsoper sein Container-Projekt „Bitte liebt Österreich!“ Eine satirische Big-Brother-Paraphrase mit echten Asylanten, die virtuell abgeschoben werden konnten: Jeder durfte am „Ausländer raus!“ – Spiel teilnehmen.
Die österreichische Seele, das goldene Wienerherz, das sich ertappt fühlte, kochte: Ungemütliche Tumultszenen waren die Folge. Schlingensief, der Kunstaktivist und Agent Provocateur des „gesunden Volksempfindens“, hatte damals wie kaum je sonst mit seiner Regie der Realität ins Schwarze getroffen, die Verhältnisse zur Kenntlichkeit entstellt.
Seit Jahren muss die Schweiz ähnliche Erfahrungen machen wie vordem Österreich. Manchmal geschieht ihr sogar grobes Unrecht. Die Demütigungen des nationalen Selbstbewusstseins häufen und verstärken sich, immer weiter scheint sich das Land in seinem Gefühl der Ohnmacht von Europa, in dessen Mitte es liegt, zu entfernen. Viele Schweizer verstehen die Welt, die ihnen die einst neiderfüllte Liebe entzogen hat, nicht mehr, igeln sich ein. Wo sind die stolzen Zeiten, da man als Modell der Korrektheit, als Idealmuster eines friedlichen Miteinanders galt, als sicherer Hafen des Geldes?
Der Abstieg vom Helden zum Buhmann der Völker ist wohl in der Tat schwer zu ertragen, der Niedergang treibt seltsame Blüten. Dass das von der Mehrheit der Stimmbürger beschlossene Minarett-Verbot vor allem in den Medien jenseits der Schweizer Grenzen auf Unverständnis und Befremden stößt, sollte niemanden überraschen. Doch ist das Image erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Wer die jüngste Ausgabe der auch außerhalb der Schweiz beachteten Zeitschrift „Die Weltwoche“ sieht, der traut seinen Augen kaum. Auf dem Titelblatt eine Art Steckbrief mit Schwarzweiß-Fotos, unter anderem der Schweizer Justizministerin, des Theologen Hans Küng und zweier Rechtsprofessoren. Der Titel: „Die Totengräber der Demokratie“. Das seien sie, weil sie das Votum kritisiert, beziehungsweise nicht öffentlich verteidigt haben. Im Inneren ist dann bereits von „Verrätern und Verdrehern des Volkswillens“ die Rede. Fazit: „Eine politische und juristische Elite, die, angespornt und unterstützt vom Geheul der unterlegenen Linken, Volksentscheide auf dem Umweg via Ausland umstoßen will, verrät und meuchelt die Demokratie.“ Was für ein Geist spricht aus solcher Sprache? Sind es die Gespenster der verblichenen Dolchstoßlegenden? In liberalen Gesellschaften haben „die Reihen“ eben nicht „dicht geschlossen“ zu sein, davon leben sie.
In diese aufgeheizte Atmosphäre platzte nun abermals Christoph Schlingensief, mit einer hurtig improvisierten „Intervention“, wie derlei im Kunstbezirk heißt. Freilich kam „Unsterblichkeit kann töten“ bloß im Huckepack-Verfahren mit einer Uraufführung seines Freundes René Pollesch am Zürcher Schauspielhaus zustande. Keine Sorge: Pollesch und Schlingensief, die braven Deutschen, treten in Zürich weder als Reiter der Schweizer Apokalypse noch als versprengte Reste von Peer Steinbrücks berüchtigter Steuerkavallerie auf.
Das Markenprodukt Pollesch gibt es einzig und allein in der Personalunion von Autor und Regisseur. Seit eh und je sind die Titel seiner Arbeiten die witzigsten im deutschen Sprachraum: „Calvinismus Klein“ ist aber leider auch das Beste an dem Stück. Mag sein, dass Pollesch die Zwingli-Stadt Zürich mit der Calvin-Stadt Genf verwechselte. Denn mit dem Calvinismus und der berühmten Studie Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ hat die Premiere so viel tun wie Lindt & Sprüngli mit Calvin Klein.
Der wahre Pate des Abends ist der Wiener Kulturphilosoph Robert Pfaller. Die Theorie der „Interpassivität“, des delegierten Genießens, lässt sich am einfachsten am Wesen der Pornografie veranschaulichen: Wir haben Lust an fremder Lust. Martin Wuttke und Carolin Conrad erörtern das furios: „Warum müssen wir immer selbst lieben? Ich will, dass das endlich jemand anderer für mich macht.“ Indes hat das bewährte Pollesch-Prinzip, hochgestochenen Diskurs aus rasanten Plappermäulchen in hysterische Boulevardkomödie zu verwandeln, schon überzeugender funktioniert. Gewiss, die Philippika gegen den pädagogischen Terror des „interaktiven Theaters“ in all seiner Bedeutungshuberei, mit der das Publikum zum Mitfühlen und sozialen Engagement animiert werden soll, sorgt für Heiterkeit genug: „Das ist voll yesterday“. Aber das geforderte „interpassive Theater“ erleidet irgendwann Schiffbruch. Rettung bringt Schlingensiefs berüchtigte Interaktivität: Dessen anfangs über Video eingespielte theatralische Prozession mit Gesang, ein Kreuzweg vom Theater am Neumarkt über das Kunsthaus bis zur Endstation im Pfauen, verleiht dem Nonsens-Slapstick abstrakter Begriffe eine tiefere Dimension. Das Motto im Untertitel „Sterben lernen!“ hat den Beigeschmack emotionaler, existenzieller Wahrhaftigkeit, verbunden mit einer Frohbotschaft: Solange Christoph Schlingensief seine Krebskrankheit zum Tode zu inszenieren vermag, geht es ihm nicht ganz schlecht.
Milder ist er jedoch zweifellos geworden, ebenso wie René Pollesch. Was wäre hier und heute nicht alles an griffigem, an untergriffigem Antihelvetismus denkbar und möglich gewesen! Großzügig verzichten sie darauf, ihre ironische Kritik wirkt eher handzahm. Und das ist auch gut so: Seid nett zu den Eidgenossen! Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es spürt wie Du den Schmerz.
Termine: 8., 14., 16., 18. Dezember; am 8. 12. gemeinsam mit Schlingensief. Karten: 0041 44 258 77 77.
Von Ulrich Weinzierl, die WELT vom 7. Dezember 2009