Bedrohlich ist die Leichtigkeit, mit der uns das Unabwendbare an diesem Abend entgegentritt.
In «Unsterblichkeit kann töten», einer Sterbeetüde, die der krebskranke Christoph Schlingensief im Theater am Neumarkt zelebriert und die wie eine schwarze Komödie beginnt: Jean Chaize ist Herr Andersen, der von seinen Krebs-Knubbeln erzählt, dann beim Ableben von seiner Tochter angefeuert wird – «Du wirst ein Genie, wenn du tot bist» – und wie ein Boxer angezählt wird: «Noch 52 Minuten, Papa!»
Feierlich-andächtig ist die Stimmung, als wir mit Schlingensief in Richtung Schauspielhaus aufbrechen, wo der zu Beginn des Abends in einer Liveschaltung kontaktierte Martin Wuttke aus der Uraufführung von René Polleschs «Calvinismus Klein» (siehe oben) abgeholt werden soll: Angeführt vom Kreuz tragenden Andersen und begleitet von einem aus Priestern und Ministrantinnen bestehenden Chor, ziehen wir in einer Prozession durch die Gassen und die von Lampen matt erleuchteten Strassen in Richtung Pfauen, vorbei am Kunsthaus, wo Andersen bei einem Zwischenstopp in einem Sarg verschwindet, vorbei an verdutzten Autofahrern, die warten müssen, bis der auf einer Sänfte getragene Schlingensief die Strassen zum Pfauen überquert hat.
Bildstarke Kammeroper
Auf die Schauspielhaus-Ränge verbannt, wird man als Neumarkt-Besucher Zeuge, wie Schlingensief mit seinem Ensemble in die Pollesch-Inszenierung einzieht, seine Parolen auf die Schauspielhaus-Bühne trägt («Sechs Milliarden Menschen werden sterben in den nächsten hundert Jahren!»), und es ist rührend, dass das ergraute Pfauen-Publikum dem an der Rampe liegenden Schlingensief nach seiner kurzen Intervention Applaus spendet.
Im Neumarkt zurück, wird die Sterbeetüde zu einer bildstarken Kammeroper, in der Schlingensief seinen tiefen Glauben an die Unsterblichkeit der Musik und an einen Hypergott zum Ausdruck bringt, der alles einschliesst. Auch wenn einem diese Privatmythologie in vielem nicht zugänglich sein mag, lässt einen Schlingensiefs kraftvolles Ringen mit dem Unergründbaren und dem Unabwendbaren nicht unberührt.
Von Andreas Tobler (Basler Zeitung, Tages-Anzeiger, 07.12.2009)