Christoph Schlingensiefs und Renée Polleschs Gemeinschaftsproduktion am Schauspiel Zürich und am Theater Neumarkt
Christoph Schlingensief ist sehr krank; und natürlich ist das der Subtext, den man bei seinem Stück immer mitdenken muss: Hier tickt die Uhr. Dass Schlingensief nun „Sterben lernen“ will, und zwar in 60 Minuten, im Sinne einer Gebrauchsanweisung, ist aber bereits eine seiner typisch ambivalenten Parolen.
Einerseits will er sich durchaus ernsthaft mit Sterbetheorien auseinandersetzen, andererseits bildet dieser Flickenteppich aus Sterbetexten – von Meister Eckhard bis Hugo Ball, von Nikolaus von Kues bis Boris Groys – nur den Vorwand für eine sehr schräge Fluxus-Happening-Veranstaltung, die dramaturgisch mit der Vorstellung arbeitet, dass da einer nur noch eine Stunde zu leben habe.
Das Sterben aber verliert einen Teil seines Schreckens, wenn es kollektiv zu Kunst verarbeitet wird. Wenn der Sterbende mit französischem Akzent herumnäselt, wenn er als skurrile Jesusfigur ganz handfest sein Kreuz die Treppe heruntertragen muss. Wenn zwischendrin viel erlösungssüchtige Musik von Richard Wagner gespielt wird, von Parsifal bis zu Isoldes Liebestod. Wenn eine schrille Performance-Gestalt auftaucht, wie Herr „Beuys von Hagen“, jener stets Beuys-Hut tragende Leichen-Plastinator, der den Körper haltbar macht, aber die Seele nicht finden kann. Das ist durchaus Schlingensiefs Anliegen: Er sucht die Seele und die Unsterblichkeit und den „Hypergott“, der für ihn eine „alles umfassende Energiewolke oder so was“ ist.
Andererseits sucht er die Nähe und die Interaktion, das „interaktive Theater“ – ganz im Gegensatz übrigens zu dem kalten Fetisch- und Warenform-Analytiker René Pollesch, der 500 Meter entfernt im Schauspielhaus sich über Kapitalismus-kompatiblen „Calvinismus“ verbreitert und das „interpassive Theater“ favorisiert, bei dem der Zuschauer sein Leben an den Schauspieler delegieren kann und sich so von den Dingen befreit, die er liebt. Mit Pollesch ist die Schlingensief-Totenmesse per Video verbunden, und diesen René Pollesch wird man nun besuchen. Wie ein dadaistischer Passionszug setzen sich die Schlingensief-Schauspieler und ihre Zuschauer in Bewegung durch die nächtliche Züricher Altstadt, begleitet von Messdienern und Chor und Sterbegesängen:
„Es ist soweit, nun musst du Abschied nehmen“
Das sind die schönsten Momente dieser Inszenierung: Eine verschleierte, aus dem Mittelalter herausgefallene Madonnenfigur tänzelt über den Zebrastreifen, ihr folgt eine Mutter mit 50iger-Jahre-Kinderwagen und der kreuztragende Jesus nebst Anhängern. Die Autos halten an, die Stadt steht einen Moment lang still. Es ist ein groteskes, subversives Fellini-Theater, das da über die Schweizer kommt, der Einbruch des Sakralen in die banale Kommerzwelt der Finanzmetropole Zürich. Schlingensief selber spielt als „Papst Mabuse“ mit, ein Hybrid aus Sonnenkönig, Kardinal und Zauberer, eine Gestalt mit Papst-Robe, Hermelin-Überwurf und zerzaustem grauem Haar. Während der Ersatz-Jesus vor dem Zürich Kunsthaus Leidens-Posen übt, erschallt der Ruf „Habemus Papam“ – Kirchenfürst Schlingensief lässt sich in einer Sänfte zum Schauspielhaus tragen und verkündet dem Volk: „Die Heilung hat eingesetzt.“
Es scheint ihm gesundheitlich tatsächlich etwas besser zu gehen. Drinnen wird die Pollesch-Inszenierung in bewährter APO-Manier gesprengt, Schlingensief liest Leserbriefe zur Minarett-Entscheidung des Schweizer Wahlvolks vor, dann geht es zurück ins Neumarkt-Theater, wo in einem Parsifal-Teil nochmals das Heil gesucht und die Kommunion verteilt wird.
Der skurrile, freakige, mystische Katholizismus, den der reine Tor Schlingensief jenseits aller offiziösen Kirchlichkeit zelebriert, hangelt genau auf der Grenze zwischen Ernst und Parodie, zwischen Sinnsuche und Show; aber er hat einen tragischen Kern. Er bindet den Zuschauer ein, aber er lässt ihm auch die Freiheit zu sagen: Ihr ödet mich an mit eurem Krebs und eurem öffentlichen Leiden. „Aktion aufrecht sterben“ stand auf Schlingensiefs Demonstrationsplakat. Etwas sozialistischer könnte es auch heißen: Einer trage des anderen Last.
Von Christian Gampert (Deutschlandfunk, Fazit, 05.12.2009)
Diesen Beitrag anhören: Deutschlandfunk
Foto: Adrian Ehrat