Doppel-Spektakel in Zürich: Christoph Schlingensief und René Pollesch präsentierten ein Gesamtkunstwerk
Aufzählung Spektakel boten sich zuletzt gleich in zwei Zürcher Theatern – im seit dieser Spielzeit von Barbara Frey geleiteten Schauspielhaus und im Theater am Neumarkt. Christoph Schlingensief setzt sich im Letzteren in seiner neuen Aktion „Unsterblichkeit kann töten“ provokativ mit dem „Sterben lernen“ auseinander: Für diese Lektion bleiben Herrn Andersen noch 60 Minuten, in denen er sein Kreuz durch Zürichs Altstadt bis zum Pfauen, dem Stammhaus des Schauspielhauses, trägt.
Nicht weit, aber irritiert haben wird die Zürcher der seltsame Zug des Sterbenden schon – begleitet von seiner Familie, einer Schar Priestern und Schlingensief als wildem Papst Mabuse an der Spitze. Skeptiker werden das blasphemische Moment herausstreichen.
Im Pfauen greifen die Aktionisten dann direkt in René Polleschs neuestes Werk ein: „Calvinismus Klein“. Mit Zürich würde man eigentlich den Reformator Ulrich Zwingli assoziieren, doch Pollesch denkt anders: Über Max Weber gelangt er zur protestantischen Ethik und so nach Zürich. Vor allem aber versucht er, gemeinsam mit den fantastischen Darstellern Martin Wuttke und Carolin Conrad das „interpassive Theater“ zu erfinden, wofür ihm Robert Pfallers Buch „Interpassivität“ Pate stand.
Sprachschwälle und Verschnaufpausen
Wie gewohnt reihen sich bei Pollesch philosophische Reden ohne Punkt und Komma aneinander. Wuttke und Conrad springen zwischen dem „Terror“ des interaktiven Theaters, Irrwegen der neoliberalen Gesellschaft und anderen Themenkreisen hin und her.
Zum Glück erhält das Publikum auch Verschnaufpausen: mit Videos, Musik von Wagners „Meistersinger“-Vorspiel bis zu einem verkitschten Bach – und natürlich mit Slapstick-Einlagen auf der von Janina Audick gestalteten Varieté-Bühne. Ins Varieté gehört auch eine Zaubernummer, bei der Conrad in einem „frauengroßen“ Lippenstift verschwindet. Köstlich auch, wenn sie sich – wie im Komödienklassiker „Der Hofnarr“ – zu merken versucht, ob sich die Pille in einem Becher mit Fächer befindet oder in einem Kelch mit einem Elch.
Nach der Zaubernummer ist es soweit: Papst Mabuse greift mit seiner Crew ins Geschehen ein, schleudert gleich zu Beginn eine ironische Spitze ins Publikum, indem er dessen „Toilette“ sein will, und lässt sich über die von den Schweizern gutgeheißene Minarett-Volksabstimmung aus.
Zeit zum mentalen Nacharbeiten
Wirklich zusammenpassen wollen das Theaterstück und die Aktion nicht. Aber sei’s drum. Wenigstens über Pollesch lässt sich eine Verbindungslinie ziehen: Für ihn war der durch B-Movies der 60er berühmt gewordene Gangster Mabuse einer der interessantesten Belege dafür, dass unter Einwirkung von Schrecken Geistesstörungen auftreten. Den Kick erhält dieses Gesamtkunstwerk ohnehin dadurch, dass zwei außergewöhnliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen und zum gedanklichen Nacharbeiten zwingen. Denn verdauen lassen sich die vielen Eindrücke in den knapp 70 Minuten kaum.
Von Oliver Schneider, Wiener Zeitung vom 09.12.2009
Fotos: Adrian Ehrat