STERBEN LERNEN IST GANZ LEICHT (SONNTAGSZEITUNG)

Veröffentlicht am Autor admin

Christoph Schlingensief feiert in Zürich eine Messe für seinen eigenen Tod: Weihevoll, witzig, kuschelweich

von Christian Hubschmid

Liebevoll nennt er sie «Knubbel». Die Metastasen – bösartige Ableger seines Lungenkrebses – sind die heimlichen Helden in Christoph Schlingensiefs Inszenierung «Sterben lernen», die er am Freitagabend in Zürich zur Premiere brachte. Der Todgeweihte wurde heftig bejubelt – obwohl er wie gewohnt mit dem Megafon herumbrüllte, den Zürcher Verkehr zum Stillstand brachte und sich über die Schweizer lustig machte. Ist der Provokateur zum Märtyrer geworden?

Man erinnert sich: 1997 wurde Schlingensief wegen seiner Aktion «Tötet Helmut Kohl!» verhaftet. 2002 verliess das Zürcher Publikum seinen mit ausstiegswilligen Neonazis besetzten «Hamlet» scharenweise. Jetzt wird der 49-jährige Theaterberserker, der an Lungenkrebs erkrankt ist, auf einer päpstlichen Sänfte durch die Zürcher Gassen getragen, begleitet von einer andächtigen Menge. Und wenn er mit rassistischen Zitaten aus «Blick am Abend» die Pfauen-Premiere stört – liegend, weil es sonst zu anstrengend ist -, erntet er begeistertes Gelächter und tosenden Applaus.

Die Theaterwelt hat ihr Enfant terrible heftig in den Arm genommen. Mit seiner anrührenden Krebsbiografie «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!» vergrösserte Christoph Schlingensief seine Fangemeinde. Jetzt stellt er als Aktionskünstler eine Frage, die nicht nur ihm, sondern auch den Massen unter den Nägeln brennt: «Wie sterben?»

Ein Mix aus Adorno, Wagner und Chemotherapie

Nach dem Sex ist der Tod die letzte Intimsphäre, die ihren privaten Status räumen muss. Im britischen Fernsehen zerfällt eine krebskranke Zahnarzthelferin vor laufenden Kameras, die Schweiz leidet mit Nella Martinetti, Deutschland trauert um den Torhüter Robert Enke. Selbsterfahrungsbücher von Krebskranken werden zu Bestsellern. Alle schauen hin, wenn wieder einer mit dem Problem konfroniert ist, wie er seinen letzten Gang antreten soll. Der Dadaist Schlingensief präsentiert die Lösung: mit dem Hypergott.

Seine Koproduktion von Theater Neumarkt und Schauspielhaus Zürich ist katholisch inspiriertes Entertainment: Ein Priester in Ornat feiert das «Adventure des Sterbens», die Tochter legt sich zum todgeweihten Papa in den Sarg, der zwanzigköpfige Chor macht klösterliche Stimmung. «Wie lange hast du noch?», lautet die Ausgangsfrage. «Sechzig Minuten», die Antwort. Da bleibt keine Zeit für Tiefgang. Schlingensief zappt sich durch die Philosophiegeschichte, jongliert mit Nietzsche und Energiewolken und mixt Adorno, Chemotherapie und Wagner zu einer opernhaften Bühnenshow. Das ist die hohe Kunst, die er beherrscht: das kämpferische, kitschige und neuerdings auch kuschelige Theater.

Christoph Schlingensief ist älter geworden, vielleicht sogar erwachsen. Sein Haar ist grau, sein Gang bewusst energiesparend. In seiner verbliebenen Lungenhälfte kommen und gehen die Metastasen. Zwischen seinen Schauspielern, den Requisiten und dem Publikum ist er zu Hause. Die Kunst ist sein letzter Trost.

«Du musst nicht sterben, wir sind hier im Theater!», heisst die Losung für seinen Helden im Stück. Schön wäre, das gälte auch für ihn.

Letzte Vorstellungen von «Sterben lernen» heute Sonntag und Dienstag, Theater Neumarkt, Zürich

Publiziert am 06.12.2009
von: sonntagszeitung.ch