Eine Weihnachtsgeschichte
Er hieß José, wurde aber immer nur Zé genannt. Er wohnte mit seiner Frau Maria in Boane, zwanzig Kilometer von Maputo entfernt, an der Straße, die nach Südafrika führt.
Zé machte sich jedoch nichts aus Landstraßen und Autos. Sein Leben gehörte der Eisenbahn. Viele Jahre war es seine Aufgabe gewesen, an einem kleinen Bahnübergang zwischen zwei Dörfern mit seiner roten Flagge vor den Zügen zu warnen. Es war kaum mehr als ein Pfad, der die Bahngleise kreuzte. Selten kamen andere Menschen vorbei als die Hütejungen mit ihren Schafen und Kühen. Aber Zé nahm seine Aufgabe immer ernst. Nie war jemand verunglückt oder zu Schaden gekommen, wenn die Züge durchfuhren, und er machte stets eine Ehrenbezeigung vor den Lokführern, obwohl sie Obszönitäten oder andere Unverschämtheiten von der Lok zu ihm hinabriefen.
Wenn es hoch kam, waren vier Züge am Tag durchgefahren. Doch das war viele Jahre her, in einer fernen Vergangenheit, als Zé noch ein junger Mann gewesen war. Dann waren die verschiedenen Kriege gekommen. Zuerst hatte das Land sich von der portugiesischen Kolonialmacht befreit. Zé hatte nie verstanden, welche Freiheit darin gelegen hatte, die Bahngleise zu sprengen. Aber Maria war klug gewesen und hatte ihm geraten, sich nicht einzumischen. Krieg war etwas für andere, nicht für sie.
Als der Frieden da war, hatten die Züge wieder zu fahren begonnen. Doch bald war ein neuer Krieg ausgebrochen. Jetzt tauchten Männer aus der Dunkelheit auf und sprengten die Gleise, weil sie mit der Freiheit, die das Land errungen hatte, nicht zufrieden waren. Mit traurigen Augen sah Zé zu, wie die Gleise wieder herausgerissen wurden. Er grübelte viel darüber nach, was für eine Freiheit diese Männer suchten.
Jetzt fuhren die Züge jedoch wieder. Es war endlich Frieden. Aber kaum mehr als zwei Züge am Tag. Die Loks und die Wagen waren alt und hinfällig. Zé stand auf seinem Posten, auch wenn er für seine Arbeit nur noch sehr selten bezahlt wurde.
Zé war sechzig Jahre alt geworden. Wenn sie nebeneinander im Dunkel der Hütte lagen, sagte Maria manchmal mit einem Seufzen, dass das Alter so plötzlich gekommen sei.
»Es ist, wie es ist«, sagte Zé. »Schlaf jetzt.«
»Das Leben ist so schnell vergangen«, klagte Maria.
»Daran kann man nichts ändern«, sagte Zé und drehte ihr den Rücken zu.
An all den Tagen, die Zé dort am Bahnübergang verbracht und auf die Züge gewartet hatte, die fast immer verspätet waren, hatte er Zeit gehabt, nachzudenken. Am meisten dachte er an seine Kinder. Er und Maria hatten neun Kinder bekommen. Drei von ihnen waren sehr klein gestorben, zwei, bevor sie fünf Jahre alt geworden waren, und außerdem ein Mädchen, das mit vierzehn Jahren von einem plötzlichen Fieber befallen wurde und daran starb. Aber drei Kinder hatten immerhin das Erwachsenenalter erreicht. Sie wohnten jetzt in der Stadt, kamen selten zu Besuch. Dennoch waren sie Zés und Marias ganze Freude.
Sie hatten Menschensamen ausgebracht, die hatten heranwachsen dürfen.
Aber Zé stand da und dachte nach, während er auf all die Züge wartete, die nicht kamen. Und es machte ihm Sorgen, dass die jungen Menschen, die heranwuchsen, sich nichts aus alldem machten, was Traditionen hieß. Das, was vor ihnen gewesen war, das Leben der Ahnen. Es war, als blickten die Jungen alle nur nach vorn und hätten die Vergangenheit völlig vergessen.
Daran dachte er und machte sich Sorgen. Doch wenn er versuchte, mit Maria darüber zu sprechen, sagte sie nur, dass er sich immer um Dinge Sorgen gemacht habe, die ihn nichts angingen.
»Es ist nicht deine Angelegenheit«, sagte sie.
»Wessen Angelegenheit ist es dann?«
»Du sollst dich um die Züge kümmern, sonst nichts.«
Zé sagte nichts mehr. Er kannte Maria und wusste, dass sie nicht zuhören würde. Hatte sie sich einmal eine Meinung gebildet, änderte sie sie nicht. Zé musste auch zugeben, dass sie oft recht hatte.
Aber diesmal wollte er seinen eigenen Weg gehen.
Deshalb ging er eines Abends durchs Dorf hinüber zu der niedrigen und schlecht instand gehaltenen Hütte, in der der alte Tischlermeister Mestre Afonse wohnte. Er lebte allein, seine Frau war tot, seine Glieder schmerzten, und er sah nicht mehr besonders gut. Aber er war ein kluger Mann, der es liebte, Gespräche zu führen.
Zé setzte sich auf den niedrigen Schemel. Zwischen den Steinen, wo der Tischlermeister seinen Kaffee kochte, glomm das Feuer.
Zé erklärte ihm, dass er sich Sorgen machte. Mestre Afonse nickte nachdenklich. Aber er sagte nichts. Er schwieg so lange, dass Zé sich zu fragen begann, ob er dort im Schatten an der Hauswand eingeschlafen oder vielleicht sogar gestorben war.
»Du hast natürlich recht«, sagte Mestre Afonse plötzlich. »Die Frage ist nur, was man da machen kann.«
»Ich habe nachgedacht«, sagte Zé. »Ich bin alt. Die Züge fahren nicht mehr. Ich kann die Jahre, die mir noch bleiben, dazu nutzen, durchs Land zu ziehen und all die Traditionen zu sammeln, die bald vergessen sein werden.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Mestre Afonse. »In der Stadt gibt es mehrere große Häuser, in denen Europäer sitzen und Geld verteilen, damit unser Leben besser wird. Sprich mit denen. Sie helfen dir bestimmt. Einer meiner Cousins macht in einem dieser Häuser sauber. Ich gebe dir seine Adresse.«
Marias Protesten zum Trotz reiste Zé einige Tage später in die Stadt. Er kletterte auf die Ladefläche eines Lastwagens, die voller Hühner war, und fuhr durch die Landschaft, die sich mit immer mehr Menschen, immer mehr Häusern, Rauch und Abgasen füllte.
Er suchte nach der richtigen Adresse, fand den Cousin und erklärte ihm sein Anliegen.
»Du musst mit Martin reden«, sagte der Cousin. »Das ist ein weißer Mann, der Afrika liebt. Er wird dir bestimmt zuhören.«
In dieser und der folgenden Nacht schlief Zé bei dem Cousin, der in einer alten Garage wohnte, wo der Regen durchs Dach tropfte. Martin hatte versprochen, ihn am dritten Tag zu empfangen.
Zé betrat ein Büro, in dem aus unsichtbaren Quellen Kaltluft wehte. Er begann sogleich zu frieren. Martin war ein Mann in seinem Alter mit einem großen freundlichen Lächeln. Sie schüttelten sich die Hand und setzten sich.
Zé erklärte, weshalb er gekommen war. Er beschrieb seine Sorge darüber, dass alle Traditionen im Begriff waren zu verschwinden, und erzählte von der Idee, die ihm gekommen war: durchs Land zu reisen und die Reste all dieser sterbenden Traditionen einzusammeln, bevor sie ganz verschwunden waren.
»Das hört sich nach einer hervorragenden Idee an«, sagte Martin, nachdem Zé geendet hatte. »Ein ausgezeichnetes kulturelles und soziologisches Projekt.«
Zé wusste nicht, was ein Projekt war. Aber er glaubte zu verstehen, dass Martin seiner Idee wohlwollend gegenüberstand.
»Ich kann dir helfen, einen Projektantrag zu stellen«, sagte Martin. »Sag mir nur, wie viel Geld du dir vorgestellt hast.«
»Fünfzig Dollar«, sagte Zé, der wusste, dass man immer von Dollar redete, wenn man mit Weißen Geschäfte machte.
Martin lächelte.
»Ich habe nicht verstanden«, sagte er.
»Fünfzig Dollar.«
»Fünfzig Dollar?«
»Ja?«
»Ist das nicht viel zu wenig?«
»Ich brauche nicht mehr.«
»Wir können keine Projektförderung von fünfzig Dollar geben.«
»Warum denn nicht?«
»So billige Projekte gibt es nicht.«
»Ich brauche nicht mehr als fünfzig Dollar.«
»Wir geben nie weniger als fünftausend Dollar.«
»Aber ich brauche wirklich nicht mehr als fünfzig Dollar.«
»Wofür willst du sie verwenden?«
»Ich brauche ein Paar ordentliche Schuhe, um durch dieses weite Land wandern zu können.«
»Ein Paar Schuhe?«
»Ja. Richtige Lederschuhe. Ich glaube, meine Füße können so lange Strecken nicht mehr barfuß gehen.«
»Aber du benötigst eine ordentliche Ausrüstung, wenn du deine Idee verwirklichen willst. Du musst irgendwo wohnen, du musst essen, du wirst eine Schreibausrüstung, einen Computer, eine Kamera brauchen. Und Lohn sollst du doch auch bekommen?«
»Nein«, sagte Zé nur. »Ich möchte nur Hilfe, um mir ein Paar Schuhe kaufen zu können. Den Rest schaffe ich allein. Etwas zu essen findet man immer und einen Platz zum Schlafen irgendwo.«
Zé hatte nichts mehr zu sagen. Martin saß schweigend da. Zé fror weiter und sehnte sich hinaus in die Wärme der Sonne.
»Komm in ein paar Tagen wieder. Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte Martin.
Aber als Zé zurückkam, konnte Martin ihm nur mitteilen, dass es leider nicht möglich war, ihm einen Beitrag von fünfzig Dollar zu geben. Es war zu wenig Geld. Außerdem konnte man nicht nach Hause schreiben und erklären, dass man ein Projekt förderte, in dem der Antragsteller nur ein Paar Schuhe brauchte.
Nachdem er sich bei dem Cousin bedankt hatte, fuhr Zé auf der Ladefläche eines anderen Lastwagens nach Hause. Am Abend lag er in der Dunkelheit an Marias Seite und erzählte ihr, was er erlebt hatte.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht fahren«, sagte sie. »Oder etwa nicht?«
»Manchmal muss man einen Versuch machen«, sagte Zé.
»Du vergisst, dass du alt bist, Zé.«
»Nein«, sagte Zé. »Ich bin noch gut bei Kräften.«
»Jetzt schlafen wir«, sagte Maria und griff im Dunkeln nach seiner Hand.
Einige Monate später verschwand Zé. Als Maria eines Morgens die Augen aufschlug, war er weg. In aller Stille hatte er die Hütte und das Dorf verlassen. Er hatte einen kleinen Zettel auf den Schemel gelegt, auf dem sie immer saß, wenn sie sich morgens wusch.
»Ich muss das tun, wofür ich mich entschieden habe. Auch wenn ich keine Schuhe bekommen habe.«
Und so wanderte Zé hinein ins Land und hinaus aus dieser kurzen Geschichte. Ob sein Vorhaben ihm gelang, weiß ich nicht.
Er war ein Mann, der es trotz allem versuchte. Und er tat es barfuß, da ein Paar Schuhe zu viel verlangt waren von den weißen Männern, die in ihren großen Häusern saßen, in denen die Kaltluft aus ihren unsichtbaren Quellen wehte.
Diese Männer liebten Afrika.
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Der schwedische Theaterregisseur und Schriftsteller Henning Mankell, dessen neue Geschichte, die auf einer alten Idee basiert, hier erstmalig abgedruckt ist, leitet sein eigenes Theater in Maputo, Mosambik, und ist einer der ersten Unterstützer des Operndorfes Remdoogo.
Dieser Text ist dem Feuilleton der ZEIT Nr. 53/2009 entnommen, das Christoph Schlingensief gestaltet hat.