Seit Christoph Schlingensief seine Krebskrankheit öffentlich gemacht hat, scheint er fast durchsichtig. Den Bilderberserker von damals erlebt man nun nachdenklich und entwaffnend offen. Das Operndorf in Burkina Faso ist seine Mission.
Eine Stunde mit Christoph Schlingensief kann einem wie Minuten vorkommen. Plötzlich hat man ein Gefühl dafür, wie viel oder wie wenig Zeit das sein kann. Was es alles noch zu besprechen gibt, zu planen, zu erinnern vor dem Sterben.
Und Schlingensief, der Opern-Regisseur, Filmemacher, Aktionskünstler und einstiges enfant terrible, redet viel, zügig, ohne Umschweife. Über die filmverrückte Jugend in Oberhausen, über Film-Seminare in Düsseldorf, wo er vor Jahren mal den „zukünftigen“ Oscar-Preisträger Christoph Waltz inszeniert hat, über seine ersten Super-8-Filme nach Groschenroman-Vorlage. Auch über den Käutner-Preis, den er jetzt in Düsseldorf bekommen hat und über die damit verbundene Aufmerksamkeit und Fürsorge, „die ich gerade gut gebrauchen kann, weil es mir nicht sehr gut geht”.
Leise, nachdenklich, entwaffnend offen
Seit der 49-Jährige seine Krebskrankheit öffentlich gemacht hat, sitzt da ein Mensch, der fast durchsichtig scheint, nicht nur, weil er so dünn geworden ist. Einer, der scheinbar kein Problem mit dem großen persönlichen Interesse, dem Mitgefühl, vielleicht sogar dem Mitleid hat. Den Bilderberserker von damals, der mit dem „Kettensägenmassaker” erschreckte, erlebt man nun leise, nachdenklich, entwaffnend offen.
Die Haare, sie wuchern wieder in typischer Schlingensief-Strubbeligkeit. Aber schmal sieht er aus in seinem dunklen Nadelstreifenanzug, trotz leichter Bräune um die Nase. Die Farbe seines Lebens, die bekommt Schlingensief derzeit aus Burkina Faso.
Dort entsteht das Festspielhaus für Afrika, sein größtes Zukunftsprojekt, sein wichtigster Nachlass vielleicht. Dass ihm Düsseldorfs OB Elbers die Rheinoper zur Eröffnung nach Afrika entsenden will, ist gewiss nett gemeint, aber nicht im Sinne Schlingensiefs. Er will kein Bayreuth für Burkina, keinen Wagner für die Wildnis, „das wäre das allerletzte”. Doch die Bezeichnung Oper, weiß er heute, habe anfangs falsche Assoziationen ausgelöst: „Da fielen dann Begriffe wie Kinski, Fitzcarraldo. Größenwahn. „Was plant der Irre jetzt?“, haben die Leute gefragt, „Kultur-Kolonialismus?“
Doch wenn Schlingensief an Oper denkt, dann hat er das griechische „Epidauros” im Kopf. Heilung durch Musik. Er, der Sterbenskranke, will Besserung bringen. Mit einer Krankenstation, aber auch mit einer Musikschule, Filmklasse und Mini-Kinos, in denen 500 Kinder ihrer Familie Eigenes vorführen sollen. „So hab ich ja auch angefangen, mit Vaters Super-8-Kamera.”
Zwei Millionen Euro will er sammeln, um das Projekt zu starten. Rund 1,3 Millionen sind schon da. Dirigent Daniel Barenboim schickt Geld und Material, Henning Mankell und Herbert Grönemeyer haben je 100 000 Euro gespendet. Auch Hollywood-Regisseur Roland Emmerich hat überwiesen, sechsstellig. Die beste Nachricht aber ist: „Wir haben Wasser gefunden”. Schlingensief strahlt.
Das Operndorf ist seine Mission, „von Afrika lernen”, ist Schlingensiefs Motto. Ein Thema, das er auch bei der nächsten Ruhrtriennale in Mülheim durchspielen will. „Ersticken in Hilfe” heißt das Projekt mit Theaterstars wie Irm Hermann und Corinna Harfouch.
An Projekten mangelt es nicht, trotz Krankheit. Im Herbst inszeniert Schlingensief an Berlins Staatsoper. Auch fürs Kino hat er Pläne. „Mein Traumprojekt heißt ,Beuys, der Film’. Am liebsten mit Oskar Roehler!”
Dann ist die Stunde fast vorbei. Schlingensief läuft zur Tür, um schnell noch seine Patentante zu verabschieden. Alles festhalten, nichts selbstverständlich nehmen, das ist Schlingensiefs neue Maxime. „Manchmal”, erzählt er, könne er sich sogar auf etwas „sehr Großes, Gewaltiges” freuen. „Wo man ein Elektron ist. Gott ist schon weitergezogen, der forscht woanders.” Das klingt fast schon wieder wie ein Schlingensief-Film. Oder doch nach einem Mann, der mit dem Kunststück Leben noch lange nicht fertig ist.
Neue Rhein Zeitung, Bühne, 03.03.2010, Martina Schürmann