Alleskombinierer und Alleskommentierer Christoph Schlingensief wird Deutschland auf der Biennale 2011 in Venedig vertreten. Er könnte schaffen, woran seine Vorgänger scheiterten: Die üblichen Gattungsmauern einstürzen zu lassen und den Sinn von Kunst neu zu definieren.
Von Swantje Karich
Christoph Schlingensief wird verehrt oder gehasst. Dazwischen gibt es fast nichts. Dafür hat der professionell provokative Künstler mit seinen unzähligen Theaterstücken und Opern, Ausstellungen und Performances selbst und ganz bewusst gesorgt. Zuletzt irritierte er mit der öffentlichen Verarbeitung seiner schweren Krankheit.
Jetzt hat ihm die Direktorin am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, Susanne Gaensheimer, als Kuratorin des deutschen Pavillons auf der Biennale 2011 das größtmögliche Vertrauen ausgesprochen: Schlingensief wird Deutschland in Venedig vertreten. Die Entscheidung ist eine handfeste Überraschung. Sie setzt zwar einen erwartbaren Kontrapunkt zur sperrig-didaktischen Katzenküche des Briten Liam Gillick von 2007. Doch Gaensheimer, die in ihren Frankfurter Ausstellungen anspruchsvollen, konzeptuellen Themen viel Aufmerksamkeit schenkt, hätte man auch die Ernennung eines hoffnungsvollen Künstlers aus der lebendigen neuen deutschen Szene zugetraut. Auswahl gibt es genug. Ausgesprochen mutig ist die Wahl nicht, da sie mit Schlingensief einen Künstler auf die internationale Bühne führt, der dort längst schon angekommen ist.
Leiden am Raum
Vielleicht aber ist Venedig ein Ort, an dem Schlingensief über sich hinauswachsen kann: Der 1938 von den Nationalsozialisten umgestaltete Pavillon scheint für ihn wie geschaffen. Er wird als Regisseur, Kurator, Künstler, Parteigründer, Privatmann mit seiner Mannschaft den Ort entern und alle auffindbaren Tabus brechen, denn er hat keine Angst vor der autoritären Formensprache. Die totale Okkupation aller Sinne ist von ihm zu erwarten.
All diese Überlegungen lassen eine Hoffnung zu: Vielleicht sind Venedig und die Kunstwelt genau jetzt reif für Schlingensief. Seine auf Öffentlichkeit berechneten Formen der Vermittlung, die kollektive Rezeption seiner Theaterschauen, führen Bildende Kunst, Theater, Oper, Performance und politische Aktion zusammen. Welches, wenn nicht dieses Gesamtkunstwerks-Orchester bringt die Beschränkungen in unseren Köpfen endgültig zum Bersten? Zwar haben schon Uecker, Richter, Baumgarten, Beuys, Haacke und viele Nachfolger einen Kommentar zur Architektur des Pavillons in ihre Präsentation einbezogen. Dieses Leiden am Raum ist aber vielleicht nur durch einen Alleskombinierer und Alleskommentierer seines Schlages zu bearbeiten.
Schlingensief ist in vielerlei Hinsicht radikaler als seine Vorgänger. Er könnte schaffen, woran zuvor Thomas Scheibitz und Tino Segal, Isa Genzken und Liam Gillick scheiterten: die üblichen Gattungsmauern einstürzen zu lassen und den Sinn von Kunst neu zu definieren. Die Schlingensiefsche Bilderflut schwappt nun also – nach Bayreuth und Afrika – auch in die Welt der Bildenden Kunst hinein. Es wird ein Erlebnis werden, das ist sicher.
Quelle: F.A.Z. vom 3.5.2010