WAS DU SIEHST, IST NICHT IMMER, WAS DU BIST (HAMBURGER ABENDBLATT)

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Christoph Schlingensief zeigt seine Afrika-Produktion „Via Intolleranza II“ mit Menschen aus Burkina Faso auf Kampnagel.

VON ARMGARD SEEGERS

Hamburg. Im Januar 2008 wurde bei Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Zur selben Zeit hatte er die Idee für ein Opernhaus in Afrika, das derzeit in Burkina Faso entsteht. Mit Menschen von dort zeigt er nun „Via Intolleranza II“ vom 23. bis 26. Mai als Koproduktion auf Kampnagel.

Christoph Schlingensief sagt, er habe sich immer schon die Frage gestellt, ob seine Arbeit sinnvoll sei oder „einfach nur Trara.“ Und wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, fragt man sich mehr als zuvor, was von einem bleiben wird. „Was ist wichtig gewesen? Diesen Gedanken bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf. Theater kann es jedenfalls nicht sein. Auch. Aber eben nicht nur.“ Selbst eine bejubelte Aufführung ist irgendwann abgespielt. Kunst weckt aber auch Sehnsüchte. „Natürlich möchte man etwas ausdrücken, was andere Menschen berührt. Aber am Ende bleibt trotzdem nichts, außer Gedanken.“ Bei einem Opernhaus allerdings ist das etwas anderes.

„Theater ist eine flüchtige Kunst“, sagt der Regisseur, der zu Beginn der 90er-Jahre Filme wie „100 Jahre Adolf Hitler“ oder „Das deutsche Kettensägenmassaker“ gedreht hatte, der 1993 am Theater debütierte und Ende der 90er soziale Aktionen mit Obdachlosen wie „Die Bahnhofsmission“ am Deutschen Schauspielhaus gestartet hatte. Bei den Bayreuther Festspielen 2004 inszenierte Christoph Schlingensief „Parsifal“, seine erste Oper. 2007 präsentierte er im brasilianischen Manaus Wagners „Fliegenden Holländer“ als Volksoper. Hier hatte er auch die Idee zu dem Opernhaus in Afrika. Inzwischen soll ein ganzes Operndorf entstehen, mit Kirche, Hotel, einer Schule, Werkstätten, Wohnmodulen und einem Krankenhaus. Im Februar war Grundsteinlegung in der Savanne, eine knappe Stunde außerhalb der Hauptstadt Ouagadougou. „Das war immer schon mein Traum, eine Oper mit einem Krankenhaus zu verbinden. Gesänge für die Seele, wie bei den alten Griechen.“

Die Inszenierung ist eine „begleitende Forschungsarbeit“ zum Operndorf und eine Antwort auf Luigi Nonos Oper „Intolleranza“, die sich mit Rassismus, Intoleranz und staatlicher Gewalt befasst. Schlingensief erforscht, was durch die Verlagerung nach Afrika mit Nonos Werk passiert. „Ich möchte begreifen, warum wir ständig Afrika helfen wollen, obwohl wir uns selber schon lange nicht mehr helfen können,“ sagt der Regisseur. „Von Afrika lernen“, heißt sein Motto. „Als Bewohner Europas finde ich in Burkina Faso viel mehr kreative Energie als in mancher ‚Kreativfabrik Deutschland‘. Mir geht es um die große Fähigkeit der Menschen dort zur Improvisation, ohne die kein Schauspiel auskommt. So gesehen, bin ich ein blasses, weißes Blatt, das zur Belichtung nach Burkina geht. Mit der kleinen Hoffnung, dort das eigene Scheitern zu begreifen, um wieder zu gesunden.“

Seit beim Nichtraucher Schlingensief ein Tumor festgestellt und ihm ein Lungenflügel entfernt wurde, muss er regelmäßig Medikamente nehmen und sich untersuchen lassen. Die Gefahr eines Wachstums des Tumors ist nicht gebannt. Eine Begleiterscheinung der Krankheit ist, dass er sich seitdem mit der Frage plagt, dass er künstlerisch noch nicht alles gezeigt habe, was er kann. Dass die ihm noch bleibende Zeit zu kurz sei, um zu beweisen, wie ernst ihm seine Arbeit ist.

„Mich berühren die Gedanken von Luigi Nono aus den 60er-Jahren nicht mehr“, sagt Christoph Schlingensief, „und ich frage mich, warum?“ Nono suchte revolutionäre Antworten auf Themen wie Klassenkampf, Gewalt gegenüber Flüchtlingen, Bürgerkrieg oder Widerstand. „Aber wenn Menschen aus Burkina Faso, die selbst geflüchtet sind, anfangen, darüber zu reden, bekommt der Text eine ganz andere Dimension.“

„Wir alle suchen Ablenkung, sind viel zu rastlos“, weiß Schlingensief heute. 40 Prozent seiner Arbeit sei Selbstdarstellung gewesen. Talkshows gehörten dazu, die Gründung der Partei „Chance 2000“ oder Aktionen wie die Einladung an vier Millionen deutsche Arbeitslose, gleichzeitig im Wolfgangsee zu baden, ihn zum Überlaufen zu bringen und dadurch das Urlaubsdomizil von Helmut Kohl zu fluten. Aber die restlichen 60 Prozent waren ein ernster, „zum Teil auch risikoreicher Weg“: „Wir alle unternehmen ständig etwas, um uns nicht mit uns selbst beschäftigen zu müssen. Diese Ablenkung kostet viel Kraft. Wir haben Angst zu erkennen, dass wir nicht dem Menschen entsprechen, zu dem wir als Kind werden wollten. Deshalb bricht die Sehnsucht nach dem Schönen aus“, glaubt Schlingensief. „Die ursprüngliche Botschaft des Theaters ist es ja zu zeigen: Es kann auch alles anders werden. Und das ist sowieso einer meiner Glaubenssätze: Was du siehst, ist nicht unbedingt das, was du bist.“

200 Menschen hat Schlingensief Anfang April in Burkina Faso für die Produktion gecastet, neun dann ausgewählt. „Das Besondere war für mich die Erfahrung, dass dort keine exzentrischen ‚Theatertypen‘ oder ,Kunstfreunde‘ auftauchten. Das sind zwar alles Selbstdarsteller, aber keine Schauspieler“, sagt der Regisseur. „Mich langweilt die sogenannte Kunstwelt mehr denn je.“ Schlingensief findet, Mainstream habe er noch nie gekonnt. Er könne Experimentalfilme, Happenings, Aktionskunst. Seine Kunst war sehr oft auch laut und schnell. Aber im Kern war sie eher melancholisch als euphorisch. Braves kam dabei selten vor. „Ich hatte das Gefühl, dass auch in mir ein böses Unbehagen lebt.“

Stets hat Schlingensief sich geärgert, wenn man ihn als Clown, Selbstdarsteller oder Provokateur abtat. „Ich habe es ja immer ernst gemeint“, sagt er. All seine Arbeiten sind Autobiografien, die die Grenzüberschreitung brauchen und bewusst Dilettantismus verwenden. Die das theatralische Ereignis feiern wie ein Hochamt.

Schlingensief glaubt, dass jeder Mensch das Leben sozial und kreativ gestalten kann. Ein besonderes Talent zum Künstler sei dafür nicht nötig. Kunst soll nicht nach dem Außergewöhnlichen streben, sondern nach dem Normalen. „Via Intolleranza II“ wird auch so etwas sein. „Trommler und Bilder vom bezaubernden Afrika kommen bei mir nicht vor. Die Leute, die bei mir mitmachen, haben normale Berufe. Sie wissen nichts von Luigi Nono, aber alles von seinen Themen.“

Schlingensief interessiert, wie viel von der Nono-Oper übrig bleibt, wenn man sie mit der komplexen afrikanischen Kultur konfrontiert. „Wir haben bei 40 Grad im Schatten gedreht. Da ich nur noch einen Lungenflügel habe, hat es bei mir wie wild gepumpt. Mein Blut ist dann wie dickflüssiges Motoröl. Ich hab mich beim Drehen furchtbar übergeben müssen, konnte gar nicht mehr aufhören. Eine meiner Darstellerinnen wollte eigentlich nicht mehr mitspielen. Sie war sehr dick, sollte sich einen Berg hochschleppen und erzählen, dass sie aus Burkina kommt und für Günter Grass schwärmt. Nachdem sie mich beobachtet hatte, sagte sie: ,Er scheint es ernst zu meinen. Eigentlich ist er fertig, aber er macht weiter.‘ Von Aussteigen war nicht mehr die Rede.“

„Abhauen geht nicht“, sagt Christoph Schlingensief auch über seine eigene Motivation. „In meinem Leben ist ja eine riesige Ungewissheit, deshalb brauche ich für meine Inszenierung so wenig Ungewissheit wie möglich. Die Arbeit in Afrika ist ja auch ein Geschenk. Da passieren wirklich viele schöne Dinge.“

Via Intolleranza II 23.-26.5., 20.00, Kampnagel (U Saarlandstraße), Jarrestraße 20, Karten 10,- bis 36,- unter T. 27 09 49 49

Quelle: Hamburger Abendblatt vom 19.5.2010