RÜBERDÜSEN, MITTROMMELN (FR)

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Christoph Schlingensiefs „Via Intolleranza II“ in Hamburg

Von Ulrich Seidler

Man möchte es Christoph Schlingensief ja so gern recht machen als Zuschauer. Und man schämt sich, wenn man zwischendurch diese Mürrischkeit bei sich entdeckt, die mit dem Gefühl einhergeht, als Restmülleimer zu dienen. Noch peinlicher ist dieses ironische Ach-ich-verstehe-Zufriedenheitsgrinsen.

Feierliche Andacht und Demut waren bei den Sterbemessen und -prozessionen geboten, die Schlingensief nach seiner Krebsdiagnose vor zwei Jahren feierte. Dafür wird man von ihm inzwischen aber auch schon wieder verarscht. Wohl zu recht. Was immer passt, ist die Verblüffung über die torpedokäferartige Energie des Künstlers – ein nervlicher oder körperlicher Zusammenbruch ist für ihn noch lange kein Grund aufzuhören, Sinnkrisen sind seine Wegweiser. Scheitern: ja, unbedingt! Aufgeben: nein, um keinen Preis!

Aber dann hirscht der um seine halbe Lunge beraubte, halbnackte Schlingensief mit einem überdimensionierten Tropenhelm durch afrikanisches Savannenland und winselt nach einem Taxi. So zu sehen auf einem Videoeinspieler bei seiner keinem Genre zuzuordnenden Veranstaltung namens „Via Intolleranza II“, die in nicht mehr ganz nachvollziehbarer Weise von der gleichnamigen Revolutionsoper Luigi Bonos (1970) inspiriert sein soll. Premiere war beim Kunsten-Festival in Brüssel, Deutschlandpremiere am Pfingstsonntag auf Kampnagel in Hamburg.

Jetzt geht das 18-köpfige, größtenteils afrikanische Ensemble samt Jazz-Kapelle auf Tournee nach München, Wien, Hannover und macht bestimmt auch irgendwann mal in Berlin Station, beim HAU, dessen Chef Matthias Lilienthal zusammen mit dem Goethe-Institut Schlingensief, wie er behauptet, in den ganzen Schlamassel überhaupt hineingetrieben hätten. Weil er, Schlingensief, doch ein guter Mensch sei, der Asylanten helfe, Nazis in die Gesellschaft wieder eingliedere und immer die Behinderten nach vorn lasse.

Jetzt will er aber nach Hause, in die Wanne, will die Policen checken und sich dem Schaumbadgefühl des Rundumversichertseins hingeben. Achtung, Zuschauer, jetzt nicht auch seufzen! Jetzt nicht denken: „Siehste, Christoph, hätt´ ich dir gleich sagen können.“

Eigentlich ist „Via Intolleranza II“ nämlich ein Making-Off zu einem chaotischen interkontinentalen Völkerverständigungshappening: Schlingensief baut in Burkina Faso ein schneckenförmiges Opern-Dorf mit einem Festspielhaus, das die in Bayreuth vor Neid erblassen lassen werde, mit Kino, Krankenstation, Großküche und im Zentrum einer Schule für 400 bis 500 Kinder, samt Film-, Musik- und Tanzklassen. Geld kommt vom Auswärtigen Amt, der Bundeskulturstiftung, dem Goethe-Institut und von Privatspendern (Empfänger: Festspielhaus Afrika GmbH, Kontonummer: 1128578, Bankleitzahl: 10070124, ab einer Spende von 50 Euro, plus 5 Euro Porto, gibt es einen signierten Bastelbogen).

Auch der in Afrika engagierte Schriftsteller Henning Mankell habe 100.000 Euro gespendet unter der Bedingung, dass er nichts weiter tun muss, was Schlingensief die liebste Haltung sei und woran er sich ein Beispiel zu nehmen anschicke.

„Via Intolleranza II“ ist auch eine durchreflektierte Selbstdenunzierung Schlingensiefs als altruistischem Kulturkolonialisten, der mal eben nach Afrika düst und ein bisschen mittrommeln will, aber eigentlich nur wieder diese eurozentrische Besserwisserei einschleppt. Der Schauspieler Stefan Kolosko übernimmt die Rolle des durchdrehenden Stellvertreterimpresarios, der versucht Ordnung in den Ablauf des Kulturprogrammes zu bringen. Wie ein reizbarer Dompteur scheucht er die in Ouagadougou gecasteten Bühnenkünstler – Sänger, Tänzer, Rapper, Entertainer – seinem Laptop-Plan hinterher.

Während diese sich den Spaß an dem Projekt und den Stolz nicht verderben lassen und mit attitüdenloser Souveränität machen, was sie können. Dazu kommen diverse Gardinen- und Leinwandstaffeln, Filmprojektionen, ein nicht weiter differenzierbarer Soundtrack aus Wagner-, Bono-, Volks-, Folklore- und Popmusik – und dass man insgesamt nicht viel sehen kann, weil es zu dunkel ist auf der Bühne (auch wegen der vielen dunklen Haut, die – so einer der vielen sich überlagernden Exkurse – mehr Beleuchtungsenergie verbrauche).

Zweimal tritt Schlingensief auf, schimpft über sein Quartier in einem nach Sperma und Vaseline stinkenden Stundenhotel in St. Pauli, referiert die widrigen Probenumstände (Vulkanausbruch, Krankheiten), erklärt, was alles falsch verstanden wurde und was eigentlich gemeint ist und parodiert sich in seiner vermutlich echten, jedenfalls ansteckenden Verzweiflung: „Lasst mich mitmachen! Ich möchte in euren Kochtopf! Esst mich auf!“

Das Publikum in Hamburg verhielt sich einmal mehr korrekt: Es jubelte.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 24.5.2010