In Burkina Faso, in der Nähe der Hauptstadt Ouagadougou, betreibt der deutsche Theatermacher Christoph Schlingensief das Projekt eines Operndorfes. Einen Ableger davon hat er nun nach Hamburg gebracht: «Via Intolleranza II», wo vorab der Titel an Luigi Nono erinnert.
Marcus Stäbler
«Ich will doch nur helfen! Ich will doch nur helfen!» ruft der blonde Mann am vorderen Bühnenrand immer wieder, während ein kleinwüchsiger Afrikaner zappelnd versucht, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Vergeblich. Der Deutsche lässt nicht locker. Er weiss ja, was gut ist für den Schwarzen. – Steht es wirklich so schlimm? Ist die Hilfswut der Europäer gegenüber Afrika letztlich ein hilfloser Akt der Gewalt, geboren aus falschem missionarischem Eifer? Christoph Schlingensiefs Stück «Via Intolleranza II», das in der Hamburger Kampnagelfabrik seine Deutschland-Premiere erlebte, wirft viele solcher Fragen auf. Fragen, die ihn umtreiben, seit er in Burkina Faso sein OperndorfProjekt Remdoogo realisiert.
Multimedialer Dauerbeschuss
Für das jüngste Stück hat Schlingensief neun Menschen aus Burkina Faso – darunter professionelle Künstler, aber auch Laien – mit einer Handvoll europäischer Darsteller zusammengewürfelt. Mit diesem Ensemble und einer kleinen Band inszeniert (und improvisiert?) er eine neunzigminütige Collage aus Spiel- und Tanzszenen, Videosequenzen und Textprojektionen, die den Zuschauer durch ein Bombardement an Eindrücken, verschiedenen Sprachen und Musikstilen zwischen «Tristan» und Trivialgedudel überwältigt und letztlich auch überfordert.
Schlingensief nutzt den multimedialen Dauerbeschuss, um einen Ausschnitt des kraftvollen Kulturlebens in Burkina Faso zu dokumentieren – und gleichzeitig die Unmöglichkeit eines «authentischen» Afrikabildes vor Augen und Ohren zu führen. Ob Voodoo-Kult, religiöse Ekstase oder vertanzter Hunger: Jede der prägnant choreografierten Assoziationen kippelt an der Grenze zwischen realem Anspruch und klischeehafter Überspitzung. Zwei in hektischem Rhythmus hin und her bewegte Gardinen behindern, verschleiern und unterteilen dabei den Blick auf die nur spärlich erleuchtete Bühne mit Stühlen, Tischen, Rednerpult und Glasvitrine. Hier sieht niemand ganz klar.
Mit der Vorlage, der Oper «Intolleranza 1960» von Luigi Nono, teilt Schlingensiefs Szenengewitter vor allem einige strukturelle Berührungspunkte. In beiden Stücken geht es um den Versuch, die vermeintliche Hochkultur aus dem selbst gewählten Elfenbeinturmgefängnis zu befreien und wieder auf den Boden der Lebenswirklichkeit herunterzureissen. Nonos Musik wird allerdings nur kurz, per Handyaufnahme, angespielt und ebenso als unzeitgemäss abgelehnt wie seine Texte.
Alte Macht- und Denkmuster
Nono sei überholt – und unter dem Deckmantel des Altruismus verberge sich eine eurozentristische Haltung, die bloss alte Macht- und Denkmuster zementiere. So lautet die Arbeitshypothese des Tempotheatermachers Schlingensief, der auch selber auftritt und atemlos von schwierigen Produktionsbedingungen, seiner Krebserkrankung und dem Operndorfprojekt erzählt. Er persifliert und ironisiert politisch korrektes Gutmenschentum und bekennt sich zum Prinzip der Brechtschen Brechung, womit er gleich noch eine weitere Metaebene installiert. – Wann genau er etwas richtig ernst meint, lässt sich, wie gewohnt, nur schwer erkennen – in seiner post-postmodernen Revue über die Vergeblichkeit mit ihren beklemmenden, aber auch urkomischen und mitunter poetisch anrührenden Momenten. Aber eine Botschaft ist doch herauszulesen: Wir Europäer sollten aufhören, ständig helfen zu wollen.
Quelle: Neue Züricher Zeitung vom 26.5.2010