DER EMPÖRUNGSMEISTER (FNP)

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Christoph Schlingensief erregt die Gemüter, auch wenn er abwesend ist

Von Dierk Wolters

Der krebskranke Aktionskünstler konnte zur Vorstellung seines venezianischen Biennale-Projekts nicht nach Frankfurt kommen. Für einen Skandal ist das Enfant terrible trotzdem immer gut.

Der deutsche Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig ist schon immer eine Angelegenheit von nationalem Belang. Wie er beim nächsten Mal gestaltet wird, ist eine Frage, bei der jeder, der Sinn für Kunst hat, mitreden will. Die als Kommissarin für das Jahr 2011 eingesetzte Susanne Gaensheimer, im Hauptberuf Chefin des Museums für Moderne Kunst Frankfurt, hat mit der Berufung Christoph Schlingensiefs einen Coup gelandet. Denn wie niemand sonst versteht es der Provokationsartist, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nach dem großen Auftritt von Städelschul-Rektor Daniel Birnbaum 2009 als Biennale-Kurator ist Frankfurt im kommenden Jahr abermals Aufmerksamkeit sicher.

Ein Skandal wird geboren

Gleich nach der Nominierung schimpfte der Maler Gerhard Richter, sonst eher für seine Zurückhaltung in künstlerischen Meinungsfragen berüchtigt, los: «Die nehmen einen Performer, dabei haben wir tausende Künstler.» Eine Einschätzung, die Gaensheimer «überhaupt nicht nachvollziehen» kann. Seine Kritik zeuge von einer «konservativen Haltung»: «Ich kann gar nicht fassen, dass Richter, der selbst einmal Avantgarde war, das so meint», sagte sie bei der Vorstellung des Projekts.

Dass Christoph Schlingensief nicht anwesend war – die Krebserkrankung, mit der er seit vier Jahren kämpft, hatte einen kurzfristigen Besuch in Berliner Krankenhäusern notwendig gemacht – war natürlich eine arge Enttäuschung. So muss es weiterhin bei Mutmaßungen bleiben, wie er den Pavillon in den Giardini bespielen wird.

Doch gehören genau diese Mutmaßungen seit jeher zum inszenatorischen Spiel der Biennale-Gerüchteküche. Zu viel verraten darf kein Kommissar, sonst wäre der Überraschungseffekt dahin. Und so ließ auch Susanne Gaensheimer, die zweite Frau, die in der 102-jährigen Geschichte der Biennale mit der ehrenvollen Aufgabe betraut wurde, nichts aus jenem regen E-Mail- und SMS-Verkehr verlauten, den sie nach eigener Aussage schon seit vielen Wochen mit dem Aktionskünstler pflegt. Stattdessen würdigte sie die abwesende Hauptfigur als Charismatiker und stellte das venezianische Vorhaben, von dem sie noch nichts zu wissen behauptete, in die Tradition seiner jüngsten Großprojekte.

In der Performance «Via Intolleranza» klagt Schlingensief schrill und nervenzermürbend Europas Ignoranz gegenüber Afrika an. Susanne Gaensheimer sagte, sie habe das Stück, das keine Oper, kein Theaterstück, sondern ein Gesamtkunstwerk sei, am Wochenende in München gesehen und sei davon «so komplett vereinnahmt» gewesen wie von wenigen Kunstwerken sonst. Den Ausschlag für ihre Entscheidung habe zuvor aber Schlingensiefs Afrika-Projekt gegeben, erzählte sie. In Burkina Faso will er eine Oper mit zugehörigem Operndorf gründen.

Verschont wird niemand

Die soziale Relevanz, sagt Gaensheimer, stehe für Schlingensief wie bei diesen Projekten immer im Vordergrund. Dass er sich dabei selbst immer vollkommen rückhaltlos mit einbezieht und mit seiner Arbeit, die herkömmliche Grenzen sprengt, neue Sichtweisen eröffnet, könnte ihm für die Biennale 2011 tatsächlich zugute kommen. Denn der deutsche Pavillon selbst gilt seit Jahrzehnten schon als Skandal. Mittlerweile haben sich Dutzende von Künstlern an dem Gebäude abgearbeitet. 1909 gebaut, wurde die Villa 1938 von den Nationalsozialisten monumental umgestaltet. Schwere Säulen prägen den Eingangsbereich, auf der Frontseite prangt der Schriftzug «Germania». Dass das helle Gebäude fast anmutig in den hinteren Winkeln der Gärten gelegen ist und sein Anblick alles andere als erdrückend wirkt, hat nicht verhindern können, dass seit Jahren wie jüngst immer wieder einmal sein Abriss gefordert wird.

«Ich werde keine Nazi-Nummer geben! Warum auch!» hat Schlingensief in einem «Focus»-Interview verraten. Dennoch seien seine Arbeiten «immer politisch». Gaensheimer ist sich sicher, dass sich Schlingensief an der Frage der nationalen Repräsentation in einer globalisierten Welt abarbeiten werde – jedoch weit über die zigmal geführte Architektur-Diskussion hinaus. Auch werde Schlingensief nichts installieren, was «nach der Eröffnung statisch dasteht». So wie bei seinem Operndorf-Projekt gehöre die Einbeziehung des Publikums für ihn stets dazu.

Gaensheimer selber steht einem Abriss des Pavillons kritisch gegenüber: «Wir sind ja nicht stehengeblieben bei Hitler und Mussolini. Zwischen damals und heute liegen 60 Jahre Zeitgeschichte.» Deswegen auch habe sie keinen ganz jungen Künstler ausgewählt, sondern einen ihrer Generation: «Einen, der meine Sprache spricht.»

Quelle: Frankfurter Neue Presse vom 30.6.2010