|
|
|
|
|
Agonie des Realen. Zweiter Tagesbericht von
den Endproben zu "Kunst & Gemüse, A. Hippler"
Auch an Tag 2 der Endproben keine Lösung, die Fragen bleiben. Es tut sich immer noch nichts, gar nichts. Ratlosigkeit auf und neben der Bühne. Godard steht auf dem Balkon und scheitert an seinem Drehbuch zum 11. September. Aus lauter Verzweiflung schickt Dzingirai ihn nach Kabul, um sich an perfekten Inszenierungen zu ergötzen. "Das Gesagte kommt vom Gesehenen", sagt Dzingirai, und im gleichen Moment gehen im Theater alle Lichter aus. Alle tappen im Dunkeln, auch die Herzen. Wo ist die Leidenschaft? Was sind das bloß für Menschen? Während des Fluges die alten Bekannten: unfreundliche Stewardessen, gestreßte Künstler auf der Reise in die Erlösung, Topterroristen und – Johannes Heesters, das Original, begleitet von seiner nur halb so alten und trotzdem schon greisen Frau. In den vielen Stillen Momenten dieses Probentages hört man ihn immer wieder in ihr Ohr röcheln: „Gehört das denn zum Stück?“ Singen will er heute nicht.
|
Eindruck der "Kunst und Gemüse" Endprobe am 09.11.2004 (Foto: Schnepf) |
Hosea Dzingirai wirkt ungehalten. Die 10 geforderten Assistenten, schwarze Assistenten, sind noch nicht gefunden. „Es geht um den Ausgleich des Farbhaushalts! Ihr seid mir alle zu blaß.“ In zügellosem Englisch fragt er die vielgereiste Karin Witt nach dem deutschen Wort für Leichenstarre. Die hätten nämlich alle schon gut drauf. Derweil nutzt Godard die Annehmlichkeiten der Ersten Klasse und geht ins bordeigene Fitneßstudio. "Schlappschwänze sind in meiner Arbeit verboten. Wir inszenieren das Ende der Kunst – aber es ist verdammt noch mal immer noch Kunst!"
Die Tonabteilung rettet die Pattsituation zwischen Regisseur und Ensemble, Künstler und Kunst, mit beschwingten Takten aus Schönbergs Oper. Ihre Handlung ist aus dem Leben gegriffen, denn Fremdgehen ist zeitlos. Die Kirche sieht das als Sünde und auch der Tagesspiegel zieht aus Protest gegen die "Verrohung der Kunst" einen Gesprächswunsch zurück (alternativ bietet man an, Schlingensiefs Parsifal-Interview vom Juli nochmals zu drucken, den Unterschied würden die Leser sowie nicht merken). Die Verzweiflung bleibt. Kettenraucher Dzingirai treibt die Inspizienz in den Wahnsinn. "Im Zuschauer- raum bitte nicht rauchen!" Zum letzten Mal steigt weißer Rauch auf. Zu allem Überfluß wird Dzingirai mitgeteilt, daß die jetzigen Videoeinspielungen nur zur Findung der Lichthelligkeit dienen. Die Mittagspause bewahrt alle vor einer Eskalation.
|
Eindruck der "Kunst und Gemüse" Endprobe am 09.11.2004 (Foto: Schnepf) |
Während der Abendprobe ist die Lage entspannt. Hosea D. will mehr auf ALS eingehen, denn "von heute auf morgen kann sich alles ändern". Man ent- schließt sich, weniger Wert auf Zukunft zu legen und aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen, d.h. sie erst einmal zu verkraften. Durch die Aktu- alisierung von historischen Stoffen schafft Theater es schließlich immer wieder, die Vorwelt auf die Realität, das Ferne auf das Nahe zu beziehen. Dafür lohnt es sich zu leben, zu proben. Viele Schauspieler können nicht mehr zwischen Kunst und Wirklichkeit unterscheiden. Deshalb beendet Dzingirai die Proben um kurz vor zwei Uhr nachts so, wie er sie begonnen hat: mit einem Spendenaufruf zugunsten der Deutschen Kultur, die ein Jahrhundert zuvor im Wüstensand von Kolmannskuppe verloren ging.
Heesters schläft.
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
|
|
|
|
|
Kunst & Gemüse
- zurück zur Übersicht
- Gastspiel 2006 in Paris
Bilderstrecken
- Kunst & Gemüse Bildergalerie
- Gastspiel in Paris Bildergalerie
KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
|
|
|
|
|