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"Alles in Großaufnahme"
Kerstin Grassmann über ihre Vorliebe für die Performance und die Zusammenarbeit mit Hosea Dzingirai.
Kerstin Grassmann, "Nichts ist wirklicher als das Nichts" war einer der zentralen Sätze Ihrer Live-Performance
auf der documenta X. Gilt das auch heute noch, bald ein Jahrzehnt später?
Grassmann: Mehr denn je, würde ich sagen. Es geht ja gar nicht mehr um Kunst. In allem, was wir nach `45 zustande gekriegt haben, ging es doch immer nur um `45 selbst. Schuld sind immer die anderen, die Nazis und die Hitlers. Und wenn die Hitlers nicht mehr reichen, kopiert man sie halt durch Bruno Ganz und den ganzen Bambisalat...
Das macht Sie wütend.
Grassmann: Klar, das ist dann zwar kurzfristig Befreiung, aber in der Befreiung liegt dann Diktatur.
Eine Simulation, um mit Baudrillard zu sprechen, den Sie studiert haben.
Grassmann: Wenn man ihn sehr reduziert, dann trifft das zu, ja. Aber Jean ist nur ein Stichwortgeber in "Kunst und Gemüse". Auch Baudrillard allein erklärt noch keine Welt.
Wie also verläuft Ihre Arbeit mit Herrn Dzingirai?
Grassmann: Ich persönlich kann sehr gut mit Hosea. Er ist unverbraucht, ursprünglich und bezieht trotzdem deutlich Position. Aber weil er schwarz ist, wird er von vielen abgelehnt. Ich halte dagegen und setze mich für seine künstlerische Zukunft ein.
Frau Jansen soll es nicht besser ergehen als Herrn Dzingirai.
Grassmann: Angela Jansen, die Dramaturgin, ja. Ihre ALS-Erkrankung setzen viele hier gleich mit geistiger Impotenz gleich. Dagegen spielen wir an.
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Kerstin Grassmann (l.) bei der "Kunst & Gemüse" Endprobe (Foto: Schnepf) |
Spielen Sie denn wirklich noch?
Grassmann: Auf Fragen, die "Spiel" und "Wirklichkeit" in einem Atemzug nennen, antworte ich nicht. Ich meine, nichts ist wirklicher als das Nichts. Ich habe von Anfang an versucht, Kunst zu machen, die sofort da ist. Wie ein Sieb ins Gesicht mit dem Baseballschläger, oder besser, wie ein Schlag ins Genick. Man sieht den Schlag nicht kommen, er haut einen einfach um.
Sie haben stets mit dem eigenen Körper gearbeitet. Fühlen Sie sich nicht ganz fremd in einer Welt der Videos und Installationen?
Grassmann: Der Geist der Zeit ist manchmal mit einem, manchmal nicht. Ich kann nicht Autofahren, habe keinen Computer und kann nicht fotografieren. Ich habe mein Konzept nie geändert, auch in der Arbeit mit Schlingensief nicht. Wenn er mich nicht so nahm, wie ich bin, dann bin ich gegangen. Ich habe eine Menge Installationen gemacht. Der Betrachter kann mit ihnen seinen Körper erfahren, auch wenn der Künstler nicht präsent ist. In Japan habe ich jetzt eine neue, interessante Richtung entstehen sehen: den soge- nannten "modest radicalism". Eine sehr persönliche Herangehensweise, wobei sehr arme Technologien verwendet werden. Im übrigen beobachte ich derzeit eine deutliche Rückwendung zum Körper, vielleicht wegen Aids oder des Endzeitgefühls, das sich über Deutschland hinaus ausgedehnt hat. Es gibt viel mehr Bewußtsein von der Vergänglichkeit des Körpers als früher.
Was hat Sie an der Wüste so angezogen?
Grassmann: Alle sind in die Wüste gegangen: Buddha, Christus, Mohammed. Dzingirai kommt aus der Wüste, Schlingensief war auch schon drin. Aber ich bin nicht religiös. Die Wüste ist der Ort, wo nichts geschieht, man wird mit sich selbst konfrontiert. Ohne Fax, Telefon und all das. Das schafft eine neue Balance zwischen der Physis und dem Mentalen. In der Wüste kann man die Kontrolle darüber lernen, und das Ganze in einer Großaufnahme von sich selbst.
Sie erwähnen Christus und Buddha. Schlingensief hat sich vor seiner Produzententätigkeit mit Ritualen befaßt, von Dzingirai wird ähnliches erwartet. Ihre Performances gleichen oft religiösen Ritualen. Sind es Rituale ohne Religion?
Grassmann: Das Publikum muß das Werk beenden. In diesem Sinne ist die Botschaft offen. Aber L'art pour l'art ist für mich keine Kunst. Sie muß das Bewußtsein beeinflussen, eine gewisse Spiritualität erzeugen, die freilich mit den alten Institutionen oder Ideen nichts zu tun hat. Kunst machen, bedeutet fragen. Nach dem Tod, nach dem Schmerz.
Haben Sie Angst vor dem Schmerz?
Grassmann: Ja, natürlich, wie jeder. Aber wenn ich mich ihm aussetze, befreie ich mich von ihr. Ich lerne die Struktur der Angst zu verstehen. Ich lerne aber auch, indem ich die Angst des Zuschauers vor dem Schmerz wahrnehme. Manchmal erlauben solche Erfahrungen es, geradezu in die Zukunft zu sehen. Schauen Sie sich das Foto an, das ich 1971 in Belgrad gemacht habe: Spaziergänger vor dem Regierungsgebäude. Und dann die- selben Spaziergänger noch einmal, und das Regierungsgebäude ausradiert. Ich habe die Serie aus ganz anderen Gründen gemacht. Es ging mir um etwas Minimalistisches; aber so sieht der Platz heute in Belgrad aus! Heute könnte ich dazu keine Kunst machen. Ich bin zu sehr beteiligt, und ich bin nicht optimistisch. Am Ende wird es genauso viele Milosevic-Opfer wie Nato-Opfer geben. Trotzdem, ich bin keine politische Künstlerin.
Oft scheinen Sie in Ihren Arbeiten auf die unzugänglichsten Seiten der Religion wie den Mystizismus zurückzugreifen...
Grassmann: Gewöhnlich wählt sich jeder das aus, was er mag, und deshalb machen wir immer wieder dieselben Fehler. Aus Angst. Und weil wir glücklich werden wollen. Die Welt besteht aus Gegensätzen, aber wir wollen immer nur die guten Seiten des Lebens. Man muß Erfahrungen selbst machen, sonst wäre Kunst nur Illustration.
Oder Illusion, um mit Baudrillard zu sprechen, den Sie...
Grassmann: Sie wiederholen sich. Ich muß zur Abendprobe.
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin
Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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